»Was tust du?«, rief sie ihm nach.
»Von weiter oben sieht man immer mehr!«
Farid war kaum noch zu entdecken zwischen den Zweigen. Meggie faltete das Blatt mit Orpheus’ Wörtern zusammen und schob es in ihren Beutel. Sie wollte die Buchstaben nicht mehr sehen, wie giftige Käfer kamen sie ihr vor, wie der Becher in Alice im Wunderland: Iss mich! Ihre Finger stießen gegen das Notizbuch mit dem marmorierten Papier, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
»>Wenn du eine Köhlerhütte entdeckst< hat Staubfinger gesagt, >dann weißt du, dass du den Weglosen Wald hinter dir hast.<« Farids Stimme drang zu ihr herunter wie die Stimme eines seltsamen Vogels. »Jedes Wort, das er gesagt hat, hab ich mir gemerkt. Ja, wenn ich will, dann bleiben die Worte an meinem Gedächtnis kleben wie Fliegen am Harz. Ich brauch kein Papier, um sie festzuhalten, o nein. >Du musst nur die Köhler finden und die schwarzen Flecken, die sie in den Pelz des Waldes brennen, dann weißt du, die Menschenwelt ist nicht mehr fern.< Das hat er gesagt. >Und folge dem Bach. Er wird dich nach Norden führen, ja, nach Norden musst du gehen, bis du irgendwann am Osthang eines Hügels, hoch über einem Fluss, die Burg des Speckfürsten liegen siehst, grau wie ein Wespennest und um sie herum den Ort, auf dessen Marktplatz man das Feuer hoch in den Himmel spucken kann.<«
Meggie kniete sich zwischen die Blumen, Veilchen und violette Glockenblumen, die meisten welkten schon, aber sie dufteten immer noch, so süß, dass ihr schwindelig wurde. Eine Wespe schwirrte zwischen ihnen umher - oder sah sie nur aus wie eine Wespe? Wie viel hatte Fenoglio seiner eigenen Wirklichkeit abgeschaut und wie viel erfunden? Alles schien so vertraut und doch fremd zugleich.
»Ist es nicht ein Glück, dass ich mir alles so genau habe beschreiben lassen?« Meggie sah Farids nackte Füße. In Schwindel erregender Höhe baumelten sie zwischen den Blättern. »Staubfinger konnte nachts oft nicht schlafen, er hatte Angst vor seinen Träumen. Ich hab ihn geweckt, wenn sie schlimm waren, und dann haben wir uns ans Feuer gesetzt und ich hab ihn ausgefragt. Darauf versteh ich mich gut. Ich bin ein Meister im Ausfragen. O ja, das bin ich.«
Meggie musste lächeln über den Stolz in seiner Stimme. Sie blickte hinauf in das Blätterdach. Die bunten Blätter mehrten sich, wie sie es auch in Elinors Garten getan hatten. Atmeten die beiden Welten im gleichen Takt? Hatten sie es vielleicht schon immer getan - oder hatten sich die beiden Geschichten erst an dem Tag untrennbar verknüpft, an dem Mo Capricorn, Basta und Staubfinger von einer in die andere hatte wechseln lassen? Die Antwort würde sie wohl nie erfahren, denn wer sollte sie wissen?
Unter einem der Büsche, dornig und schwer von dunklen Beeren, raschelte es. Wölfe und Bären, Katzen mit geflecktem Fell - von ihnen hatte Resa auch erzählt. Meggie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, aber ihr Kleid blieb an hohen Disteln hängen, weiß von der eigenen Saat.
»Farid?«, rief sie und ärgerte sich über die Angst in ihrer Stimme. »Farid!«
Aber er schien sie nicht zu hören. Er plapperte immer noch vor sich hin, hoch oben zwischen den Zweigen, sorglos wie ein Vogel im Sonnenschein, während sie, Meggie, hier unten zwischen den Schatten steckte, Schatten, die sich bewegten, Augen hatten, knurrten. War das eine Schlange dort? Sie befreite ihr Kleid mit einem so heftigen Ruck, dass es einen Riss bekam, stolperte weiter zurück, bis ihr Rücken an den borkigen Stamm einer Eiche stieß. Die Schlange glitt davon, so schnell, als hätte auch ihr Meggies Anblick eine Todesangst eingeflößt, doch unter dem Busch rührte sich immer noch etwas, und schließlich schob sich ein Kopf zwischen den stachligen Zweigen hervor, pelzig und rundnasig, mit winzigen Hörnern zwischen den Ohren.
»Nein!«, flüsterte Meggie. »O nein.«
Gwin starrte sie an, fast vorwurfsvoll, als gebe er ihr die Schuld dafür, dass sein Pelz voll feiner Stacheln saß.
Über ihr war Farids Stimme wieder deutlicher zu hören. Offenbar stieg er endlich herab von seinem Ausguck. »Keine Hütte, keine Burg, gar nichts!«, rief er. »Ein paar Tage wird es schon dauern, bis wir aus diesem Wald herauskommen. Aber genau so wollte Staubfinger es. Er wollte sich Zeit damit lassen. Ich glaube, er hatte fast mehr Sehnsucht nach den Bäumen und den Feen als nach seinesgleichen. Na ja, ich weiß nicht, wie es dir geht, die Bäume sind schön, sehr schön, aber ich möchte auch die Burg sehen, die anderen Spielleute und die Gepanzerten.«
Er sprang ins Gras, hüpfte auf einem Bein durch den Teppich aus blauen Blüten - und stieß einen Freudenschrei aus, als er den Marder entdeckte. »Gwin! Ah, ich wusste, dass du mich gehört hast. Komm her, du Sohn eines Teufels und einer Schlange! Na, da wird Staubfinger aber Augen machen, dass wir ihm seinen alten Freund doch mitgebracht haben, nicht wahr?«
O ja, das wird er!, dachte Meggie. Die Knie werden ihm weich werden, so sehr wird die Angst ihm die Luft abschnüren!
Der Marder sprang Farid auf die Knie, als er sich ins Gras hockte, und leckte ihm zärtlich das Kinn. Jeden anderen biss er, selbst Staubfinger, doch bei Farid führte er sich auf wie ein junges Kätzchen.
»Scheuch ihn fort, Farid!« Meggies Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
»Fortscheuchen?« Farid lachte. »Was redest du da? Hörst du das, Gwin? Was hast du ihr getan? Hast du ihr eine tote Maus auf ihre kostbaren Bücher gelegt?«
»Scheuch ihn fort, sag ich! Er kommt allein zurecht, das weißt du! Bitte!«, setzte sie hinzu, als sie sah, wie entgeistert er sie ansah.
Farid richtete sich auf, den Marder auf dem Arm. Sein Gesicht war so feindselig, wie sie es nie zuvor gesehen hatte. Gwin sprang ihm auf die Schulter und starrte Meggie an, als hätte er jedes ihrer Worte verstanden. Also gut. Dann würde sie es eben doch erzählen müssen. Aber wie?
»Staubfinger hat es dir nicht gesagt, oder?«
»Was?« Er blickte sie an, als würde er sie am liebsten schlagen.
Über ihnen fuhr der Wind durch das Blätterdach wie ein bedrohliches Flüstern.
»Wenn du Gwin nicht fortscheuchst«, sagte Meggie, auch wenn ihr jedes Wort schwer fiel, »dann wird Staubfinger es tun. Und dich wird er gleich mit fortjagen.«
Der Marder starrte sie immer noch an.
»Warum sollte er so was tun? Du magst ihn nicht, das ist alles! Du hast Staubfinger noch nie gemocht und Gwin sowieso nicht.«
»Das ist nicht wahr! Du verstehst gar nichts!« Meggies Stimme wurde laut und schrill. »Er stirbt wegen Gwin! Staubfinger stirbt, so hat Fenoglio es geschrieben! Vielleicht hat die Geschichte sich geändert, vielleicht ist das hier eine neue Geschichte und alles, was in dem Buch steht, ist nur noch ein Berg von toten Buchstaben, aber.«
Meggie hatte nicht das Herz, weiterzusprechen. Farid stand da und schüttelte den Kopf, immer wieder, als steckten ihre Worte wie Nadeln darin und schmerzten.
»Er stirbt?« Seine Stimme war kaum zu hören. »Er stirbt in dem Buch?«
Wie verloren er dastand, den Marder immer noch auf der Schulter. Er musterte die Bäume ringsum so entsetzt, als hätten sie alle nichts anderes im Sinn, als Staubfinger zu töten. »Aber. wenn ich das gewusst hätte«, stammelte er, »dann hätte ich dem Käsekopf das verdammte Blatt doch zerrissen! Ich hätte doch nie zugelassen, dass er ihn zurückliest!«