Der Schrankmann wandte sich zur Tür, offenbar hatte er, was Tiere betraf, ein weiches Herz, aber Mortola winkte ihn ungeduldig zurück.
»Der Hund bleibt, wo er ist. Ich kann das Vieh nicht ausstehen!« Mit gerunzelter Stirn sah sie sich in Elinors Eingangshalle um. »Wirklich, ich habe mir dein Haus größer vorgestellt«, stellte sie mit gespielter Enttäuschung fest. »Ich dachte, du seist reich.«
»Das ist sie auch!« Basta schlang Orpheus den Arm so unsanft um den Nacken, dass ihm die Brille verrutschte. »Aber sie gibt alles für Bücher aus. Was würde sie uns wohl für das Buch bezahlen, das wir Staubfinger abgenommen haben? Was denkst du?« Er kniff Orpheus in die runden Backen. »Ja, unser Freund hier war ein netter feister Köder für den Feuerfresser. Er sieht aus wie ein Ochsenfrosch, aber nicht mal Zauberzunge gehorchen die Buchstaben besser als ihm, von Darius ganz zu schweigen. Fragt Staubfinger! Orpheus hat ihn nach Hause geschickt, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt! Nicht, dass der Feuerfresser - «
»Halt den Mund, Basta!«, unterbrach Mortola ihn barsch. »Du hast dich schon immer allzu gern reden hören. Also!« Ungeduldig stieß sie den Stock auf die Marmorfliesen, auf die Elinor so stolz war. »Wo sind sie? Wo sind die anderen? Ich frage nicht noch mal!«
Na los, Frau Loredan!, dachte Elinor. Lügen Sie! Schnell! Aber sie hatte noch nicht einmal den Mund geöffnet, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Nein! Nein, Mortimer!, flehte sie stumm. Bleib, wo du bist! Geh mit Resa zurück in die Werkstatt! Schließt euch dort ein, aber bitte, bitte, kommt nicht gerade jetzt!
Natürlich nützte ihr Flehen nicht das Geringste. Mortimer schloss die Tür auf, trat herein, den Arm um Resas Schulter -und blieb abrupt stehen, als er Orpheus sah. Ehe er ganz begriff, was vorging, hatte der Schrankmann auf einen Wink von Mortola schon die Tür hinter ihm zugeschlagen.
»Hallo, Zauberzunge!«, sagte Basta mit bedrohlich sanfter Stimme, während er sein Messer vor Mortimers Gesicht aufschnappen ließ. »Und ist das nicht unsere schöne stumme Resa? Na, bestens. Gleich zwei auf einen Schlag. Fehlt nur noch die kleine Hexe.«
Elinor sah, wie Mortimer für einen Augenblick die Augen schloss, als hoffte er, Basta und Mortola würden verschwunden sein, wenn er sie wieder öffnete. Aber natürlich war dem nicht so.
»Ruf sie!«, befahl Mortola, während ihre Augen Mo so hasserfüllt musterten, dass Elinor Angst bekam.
»Wen?«, fragte er zurück, ohne Basta aus den Augen zu lassen.
»Stell dich nicht dümmer, als du bist!«, fuhr Mortola ihn an. »Oder willst du, dass ich Basta erlaube, deiner Frau dasselbe Muster ins Gesicht zu schneiden, mit dem er den Feuerspucker verziert hat?«
Basta strich seinem Messer zärtlich mit dem Daumen über die glänzende Klinge.
»Falls du mit der Hexe meine Tochter meinst«, antwortete Mortimer mit belegter Stimme, »die ist nicht hier.«
»Ach ja?« Mortola humpelte auf ihn zu. »Sei vorsichtig. Meine Beine schmerzen von der endlosen Fahrerei hierher, das macht mich nicht sonderlich geduldig.«
»Sie ist nicht hier!«, wiederholte Mortimer. »Meggie ist fort, mit dem Jungen, dem ihr das Buch weggenommen habt. Er hat sie gebeten, ihn zu Staubfinger zu bringen, das hat sie getan - und ist mit ihm gegangen.«
Mortola kniff ungläubig die Augen zusammen. »Unsinn!«, stieß sie hervor. »Wie soll sie das ohne das Buch angestellt haben?« Doch Elinor sah den Zweifel auf ihrem Gesicht.
Mortimer zuckte die Schultern. »Der Junge hatte ein handbeschriebenes Blatt Papier dabei, das Blatt, das angeblich Staubfinger hinübergebracht hat.«
»Aber das ist unmöglich!« Orpheus sah ihn entgeistert an. »Behaupten Sie allen Ernstes, Ihre Tochter hätte sich selbst in die Geschichte gelesen, mit meinen Worten?«
»Ach, dann sind Sie dieser Orpheus?« Der Blick, mit dem Mortimer ihn musterte, war wenig freundlich. »Ihnen habe ich es also zu verdanken, dass ich keine Tochter mehr habe.«
Orpheus rückte sich die Brille zurecht und erwiderte seinen Blick mit derselben Feindseligkeit. Dann drehte er sich abrupt zu Mortola um. »Ist das dieser Zauberzunge?«, fragte er. »Er lügt! Ich bin ganz sicher! Er lügt! Niemand kann sich selbst in eine Geschichte hineinlesen. Weder er noch seine Tochter noch sonst irgendwer. Ich habe es selbst Hunderte von Malen versucht. Es geht nicht!«
»Ja«, sagte Mortimer mit müder Stimme. »Genau das habe ich bis vor vier Tagen auch geglaubt.«
Mortola starrte ihn an. Dann gab sie Basta ein Zeichen. »Sperr sie alle in den Keller!«, befahl sie. »Und dann sucht das Mädchen. Durchsucht das ganze Haus.«
Fenoglio
»Ich übe mich ja im Erinnern, Nain«, sagte ich.
»Im Schreiben und Lesen und im Erinnern.«
»Das solltest du auch!«, sagte Nain scharf.
»Weißt du, was jedesmal passiert, wenn du eine Sache aufschreibst?
Jedesmal, wenn du etwas einen Namen gibst? Du entziehst ihm seine Kraft.«
Kevin Crossley-Holland, Artus. Der magische Spiegel
Bei Dunkelheit war es in Ombra nicht leicht, an den Wachen vorm Stadttor vorbeizukommen, doch Fenoglio kannte sie alle. Dem grobschlächtigen Klotz, der ihm in dieser Nacht seine Lanze entgegenhielt, hatte er schon so manches Liebesgedicht verfasst - mit großem Erfolg, wie ihm berichtet worden war -, und so wie der Dummkopf aussah, würde er auch weiterhin seine Dienste brauchen.
»Aber sei vor Mitternacht zurück, Schreiberling!«, grunzte ihm der hässliche Kerl zu, bevor er ihn passieren ließ. »Dann löst mich nämlich das Frettchen ab, und der ist an deinen Gedichten nicht interessiert, obwohl sein feines Liebchen lesen kann.«
»Danke für die Warnung!«, sagte Fenoglio und schenkte dem dummen Kerl ein falsches Lächeln, während er sich an ihm vorbeischob. Als ob er nicht wüsste, dass mit dem Frettchen nicht zu spaßen war! Sein Magen schmerzte noch heute, wenn er sich daran erinnerte, wie ihm der spitznasige Kerl den Lanzenschaft in den Bauch gerammt hatte, als er versucht hatte, sich mit ein paar wohlgesetzten Worten an ihm vorbei-zuschieben. Nein, das Frettchen ließ sich nicht bestechen, weder mit Gedichten noch mit anderen geschriebenen Gaben. Das Frettchen wollte Gold, und davon besaß Fenoglio nicht allzu viel, zumindest nicht genug, um es an einen Wächter der Stadttore zu verschwenden.
»Bis Mitternacht!«, schimpfte er leise, während er den steilen Pfad hinunterstolperte. »Als ob Spielleute da nicht gerade erst munter werden!«
Der Sohn seiner Wirtin trug ihm die Fackel voran. Ivo, neun Jahre alt und unersättlich neugierig auf alle Wunder seiner Welt. Er stritt jedes Mal mit seiner Schwester um die Ehre, Fenoglio die Fackel zu tragen, wenn der zu den Spielleuten ging. Fenoglio zahlte Ivos Mutter ein paar Münzen pro Woche für eine Kammer unterm Dach. Dafür wusch und kochte Minerva auch für ihn und flickte seine Kleider. Im Gegenzug erzählte Fenoglio ihren Kindern Gutenachtgeschichten und hörte sich geduldig an, was für ein sturer Klotz ihr Mann manchmal sein konnte. Ja, er hatte es gut getroffen, in der Tat.
Der Junge hüpfte immer ungeduldiger vor ihm her. Er konnte es kaum erwarten, zu den bunten Zelten zu kommen, dorthin, wo Musik und Feuerschein durch die Bäume drangen. Immer wieder sah er sich zu ihm um, vorwurfsvoll, als ließe Fenoglio sich absichtlich Zeit. Was glaubte er? Dass ein alter Mann noch so schnell wie ein Grashüpfer war?
Dort, wo der Grund so steinig war, dass nichts wachsen wollte, hatte das Bunte Volk sein Lager aufgeschlagen, hinter den Hütten der Bauern, die das Land des Speckfürsten bestellten. Seit der Fürst von Ombra ihre Späße und Lieder nicht mehr hören wollte, kamen sie seltener als früher, doch zum Glück wollte der fürstliche Enkel seinen Geburtstag nicht ohne Gaukler feiern, und so würden sie am Sonntag endlich wieder durch das Stadttor strömen: Feuerspucker und Seiltänzer, Tierbändiger und Messerwerfer, Schauspieler, Possenreißer und so mancher Spielmann, der ein Lied singen würde, das aus Fenoglios Feder stammte.