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Wörter.

Wörter füllten die Nacht wie der Duft unsichtbarer Blüten.

Maßgeschneiderte Wörter, geschöpft aus dem Buch, das Farid fest umklammert hielt, und zusammengefügt von Orpheus’ teigblassen Händen zu neuem Sinn. Von einer anderen Welt sprachen sie, von einer Welt voller Wunder und Schrecken. Und Farid lauschte und vergaß die Zeit. Er spürte nicht einmal mehr, dass es so etwas überhaupt gab. Es gab nur noch Orpheus’ Stimme, die so gar nicht zu dem Mund passen wollte, aus dem sie kam. Sie ließ alles verschwinden, die löchrige

Straße und die ärmlichen Häuser an ihrem Ende, die Laterne, die Mauer, auf der Orpheus saß, ja, selbst den Mond über den schwarzen Bäumen. Und die Luft roch plötzlich fremd und süß.

Er kann es, dachte Farid, er kann es tatsächlich, während Orpheus’ Stimme ihn blind und taub machte für alles, was nicht aus Buchstaben bestand. Als der Käsekopf plötzlich schwieg, sah er sich verwirrt um, schwindlig vom Wohlklang der Wörter. Wieso waren die Häuser noch da und die Laterne, rostig von Wind und Regen? Auch Orpheus war noch da und sein Höllenhund.

Nur einer war fort. Staubfinger.

Farid aber stand immer noch auf derselben verlassenen Straße. In der falschen Welt.

Katzengold

So ein Bösewicht wie Joe musste sich ja - das war ihnen ganz klar - dem Teufel verschrieben haben, und es könnte doch allzu verhängnisvoll werden, sich mit einer solchen Macht in einen Kampf einzulassen.

Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawver

»Nein!« Farid hörte das Entsetzen in seiner eigenen Stimme. »Nein! Was hast du getan? Wo ist er?«

Orpheus erhob sich umständlich von der Mauer, das verfluchte Blatt immer noch in der Hand, und lächelte. »Zu Hause. Wo sonst?«

»Und? Was ist mit mir? Lies weiter! Nun lies schon!« Alles verschwamm hinter dem Schleier seiner Tränen. Er war allein, wieder allein, so wie er es immer gewesen war, bevor er Staubfinger gefunden hatte. Farid begann zu zittern, so sehr, dass er gar nicht merkte, wie Orpheus ihm das Buch aus den Händen zog.

»Und erneut ist es bewiesen!«, hörte er ihn murmeln. »Ich trage meinen Namen zu Recht. Ich bin der Meister aller Worte, der geschriebenen wie der gesprochenen. Keiner kann sich messen mit mir.«

»Der Meister? Was redest du da?« Farid schrie so laut, dass selbst der Höllenhund sich duckte. »Wenn du so viel von deinem Handwerk verstehst, wieso bin ich dann noch hier? Los, lies noch mal! Und gib mir das Buch zurück!« Er griff danach, aber Orpheus wich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit zurück.

»Das Buch? Warum sollte ich es dir geben? Du kannst doch vermutlich nicht mal lesen. Ich verrate dir etwas! Hätte ich gewollt, dass du mit ihm gehst, dann wärst du jetzt dort, aber du hast nichts in seiner Geschichte zu suchen, deshalb habe ich die Sätze über dich einfach nicht gelesen. Verstanden? Und jetzt mach, dass du fortkommst, bevor ich dir meinen Hund auf den Hals hetze. Jungen wie du haben ihn mit Steinen beworfen, als er ein Welpe war, seither jagt er deinesgleichen zu gern!«

»Du Sohn eines Hundes! Du Lügner! Betrüger!« Farids Stimme überschlug sich. Hatte er es nicht gewusst? Hatte er es Staubfinger nicht gesagt? Falsch wie Katzengold war der Käsekopf. Etwas drängte sich zwischen seinen Beinen hindurch, pelzig und rundnasig, mit winzigen Hörnern zwischen den Ohren. Der Marder. Er ist fort, Gwin!, dachte Farid. Staubfinger ist fort. Wir werden ihn nie wieder sehen!

Der Höllenhund senkte den klobigen Kopf und machte zögernd einen Schritt auf den Marder zu, aber Gwin entblößte die nadelspitzen Zähne, und der riesige Hund zog verblüfft die Nase zurück.

Seine Angst machte Farid Mut. »Gib es mir, na los!« Er stieß Orpheus die magere Faust vor die Brust. »Das Papier und das Buch! Oder ich schlitz dich auf wie einen Karpfen. Ja, das tue ich!« Dass er schluchzen musste, ließ die Sätze nicht halb so eindrucksvoll klingen, wie er es beabsichtigt hatte.

Orpheus tätschelte seinem Hund den Kopf, während er sich das Buch in den Hosenbund schob. »Oh, jetzt fürchten wir uns aber, nicht wahr, Cerberus?«

Gwin presste sich an Farids Beine. Sein Schwanz zuckte beunruhigt hin und her. Farid dachte, der Hund sei der Grund, selbst dann noch, als der Marder auf die Straße sprang und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite verschwand. Blind und taub!, dachte er später immer wieder. Blind und taub, Farid.

Orpheus aber lächelte, wie jemand, der etwas mehr weiß als sein Gegenüber. »Weißt du, mein junger Freund«, sagte er. »Ich habe wirklich einen Höllenschreck bekommen, als Staubfinger das Buch zurückverlangte. Zum Glück hat er es dir gegeben, sonst hätte ich nichts für ihn tun können. Es war schwer genug, meinen Auftraggebern auszureden, ihn einfach umzubringen, aber sie mussten es mir versprechen. Nur unter der

Bedingung habe ich den Köder gespielt. den Köder für das Buch, denn darum geht es hier, falls du das noch nicht begriffen hast. Es geht nur um das Buch, um nichts sonst. Ja, sie haben versprochen, Staubfinger kein Haar zu krümmen, aber von dir war leider nie die Rede.«

Bevor Farid begriff, wovon der Käsekopf sprach, spürte er das Messer an seinem Hals - scharf wie Schilfgras und kälter als der Dunst zwischen den Bäumen.

»Na, wen haben wir denn da?«, raunte ihm eine nie vergessene Stimme ins Ohr. »Hab ich dich nicht zuletzt bei Zauberzunge gesehen? Angeblich hast du Staubfinger trotzdem geholfen, ihm das Buch zu stehlen, nicht wahr? Tja, du bist schon ein nettes Bürschchen.« Das Messer schnitt Farid in die Haut, und Pfefferminzatem strich ihm übers Gesicht. Hätte er Basta nicht an seiner Stimme erkannt, dann an seinem Atem. Sein Messer und ein paar Blätter Minze - Basta hatte beides immer dabei. Er kaute die Blätter und spuckte einem die Reste vor die Füße. Gefährlich wie ein tollwütiger Hund war er und nicht allzu klug, aber wie kam er hierher? Wie hatte er sie gefunden?

»Na, was hältst du von meinem neuen Messer?«, schnurrte er Farid ins Ohr. »Ich hätte den Feuerfresser ja zu gern auch damit bekannt gemacht, aber Orpheus hier hat eine Schwäche für ihn. Was soll’s, ich werde Staubfinger schon wiederfinden. Ihn und Zauberzunge und seine Hexentochter. Sie werden alle bezahlen.«

»Wofür?«, stieß Farid hervor. »Dafür, dass sie dich vor dem Schatten gerettet haben?«

Aber Basta presste ihm das Messer nur noch fester gegen den Hals. »Gerettet? Unglück haben sie mir gebracht, nichts als Unglück!«

»Um Himmels willen, steck das Messer weg!«, fuhr Orpheus mit angeekelter Stimme dazwischen. »Er ist bloß ein Junge. Lass ihn laufen. Ich habe das Buch, wie abgemacht, also - «

»Laufen lassen?« Basta lachte auf, aber das Lachen blieb ihm im Halse stecken. Ein Fauchen drang hinter ihnen aus dem Wald, und der Höllenhund legte die Ohren an. Basta fuhr herum. »Was, zum Teufel? Verdammter Idiot! Was hast du da aus dem Buch kriechen lassen?«

Farid wollte es nicht wissen. Er spürte nur, wie Basta für einen Moment den Griff lockerte. Das reichte. Er biss ihn so fest in die Hand, dass er Blut schmeckte.

Basta schrie auf und ließ das Messer fallen.

Farid riss die Ellbogen zurück, stieß sie ihm gegen die hagere Brust - und rannte. Die Mauer am Straßenrand hatte er ganz vergessen. Er stolperte darüber und fiel so heftig auf die Knie, dass er nach Atem rang. Als er sich aufraffte, sah er das Papier auf dem Asphalt liegen, das Blatt Papier, das Staubfinger fortgebracht hatte. Der Wind musste es auf die Straße getrieben haben. Mit fliegenden Fingern griff er danach. Deshalb habe ich die Sätze über dich einfach nicht gelesen. Verstanden?, höhnte Orpheus’ Stimme in seinem Kopf. Farid presste das Blatt gegen die Brust und rannte weiter, über die Straße, auf die Bäume zu, die dunkel auf der anderen Seite warteten. Hinter ihm knurrte und bellte der Höllenhund, dann jaulte er auf. Wieder fauchte etwas, so wild, dass Farid nur noch schneller lief. Orpheus schrie auf, die Angst ließ seine Stimme schrill und hässlich werden. Basta fluchte, und dann war da wieder das Fauchen, wild wie das der großen Katzen, die es in Farids alter Welt gegeben hatte.