Den Krummen - eine seiner Figuren! Ein harmloser Kerl, der länger als jeder andere auf dem Kopf stehen konnte. »Was maßt dieser Fürst sich an?«, hatte Fenoglio in die Nacht ge-schrien, als könnte der Natternkopf ihn hören. »Ich bin der Herr über Leben und Tod in dieser Welt, nur ich, Fenoglio!« Und die Worte waren aufs Papier geflossen, zornig und wild wie der Räuber, den er in jener Nacht erfand. Der Eichelhäher war all das, was Fenoglio in seiner Welt gern gewesen wäre: frei wie ein Vogel, keinem Herrn Untertan, furchtlos, edel (manchmal auch witzig), die Reichen beraubend, den Armen gebend, die Schwachen schützend vor der Willkür der Starken in einer Welt, in der es kein Gesetz gab, das das tat.
Fenoglio spürte erneut ein Zupfen am Ärmel. »Bitte, Tintenweber! Nur eine Geschichte!« Der Junge war wirklich hartnäckig, ein leidenschaftlicher Geschichtenhörer. Vermutlich würde er mal ein berühmter Spielmann werden. »Sie sagen, der Eichelhäher hat dem Natternkopf seinen Glücksbringer gestohlen!«, flüsterte der kleine Kerl. »Den Fingerknochen des Gehängten, der ihn vor den Weißen Frauen beschützt. Sie sagen, der Eichelhäher trägt ihn nun selbst um den Hals.«
»Tatsächlich?« Fenoglio hob die Augenbrauen. Das sah immer sehr wirkungsvoll aus, so dicht und struppig, wie sie waren. »Nun, ich habe etwas noch Tollkühneres gehört, aber jetzt muss ich erst einmal mit dem Schwarzen Prinzen reden.«
»Ach bitte, Tintenweber!« Sie hingen an seinen Ärmeln, rissen ihm fast die teure Borte herunter, die er sich für ein paar Münzen auf den groben Stoff hatte nähen lassen, um nicht so erbärmlich auszusehen wie die Schreiber, die auf dem Markt Testamente und Briefe schrieben.
»Nein!«, sagte er streng, während er seine Ärmel befreite. »Vielleicht später. Und nun verschwindet!«
Der mit der Triefnase sah ihm mit so traurigen Augen nach, dass er Fenoglio für einen Moment an seine Enkel erinnerte. Pippo hatte auch immer so dreingeschaut, wenn er ihm ein
Buch gebracht und es ihm auffordernd in den Schoß gelegt hatte.
Kinder!, dachte Fenoglio, während er auf das Feuer zuschritt, an dem er den Schwarzen Prinzen entdeckt hatte. Sie sind überall gleich. Gierige kleine Biester, aber die besten Zuhörer, egal, in welcher Welt. Die allerbesten.
Der Schwarze Prinz
»Also können Bären sich ihre eigene Seele machen.«, sagte Lyra.
Es gab so vieles auf der Welt, wovon sie nichts wusste.
Philip Pullman, Der goldene Kompass
Der Schwarze Prinz war nicht allein. Natürlich nicht. Wie immer war sein Bär bei ihm. Wie ein zottiger Schatten hockte er hinter seinem Herrn am Feuer. Fenoglio erinnerte sich noch genau an den Satz, mit dem er den Prinzen erschaffen hatte. Gleich am Anfang von Tintenherz, zweites Kapitel. Fenoglio sprach die Worte leise vor sich hin, während er auf ihn zuschritt: »Ein elternloser Junge, die Haut fast so schwarz wie das krause Haar, mit dem Messer ebenso schnell wie mit der Zunge, immer bereit, die zu beschützen, die er liebte - ob es nun seine zwei jüngeren Schwestern waren, ein misshandelt er Bär oder Staubfinger, sein bester Freund, sein allerbester.«
». der trotzdem einen höchst dramatischen Tod gestorben wäre, wenn es nach mir gegangen wäre!«, setzte Fenoglio leise hinzu, während er dem Prinzen zuwinkte. »Aber das weiß mein schwarzer Freund zum Glück nicht, sonst wäre ich an seinem Feuer wohl kaum noch willkommen!«
Der Prinz erwiderte seinen Gruß. Vermutlich glaubte er, dass man ihn seiner Hautfarbe wegen den Schwarzen Prinzen nannte, aber Fenoglio wusste es besser. Er hatte den Namen für ihn gestohlen - aus einem Geschichtsbuch seiner alten Welt. Ein berühmter Ritter hatte ihn einst getragen, Sohn eines Königs und ein großer Räuber dazu. Hätte es ihm gefallen, dass ein Messerwerfer seinen Namen trug, ein König der Spielleute? Nun, wenn nicht, so kann er trotzdem nichts daran ändern, dachte Fenoglio, denn seine Geschichte ist schon lange zu Ende.
Zur Linken des Prinzen saß der elende Stümper von einem Bader, der Fenoglio beim Zähneziehen fast den Kiefer gebrochen hatte, und rechts von ihm hockte der Rußvogel, ein lausiger Feuerspucker, der von seinem Handwerk ebenso wenig verstand wie der Bader vom Zähneziehen. Bei dem Bader war Fenoglio nicht ganz sicher, doch der Rußvogel war auf keinen Fall seine Erfindung. Weiß der Himmel, wo der herkam! Jeder, der ihn Feuer spucken sah, stümperhaft und voll Angst vor den Flammen, hatte sofort einen anderen Namen auf der Zunge: Staubfinger - Feuertänzer - Flammenzähmer.
Der Bär grunzte, als Fenoglio sich zu seinem Herrn ans Feuer setzte, und betrachtete ihn mit seinen kleinen gelben Augen, als wollte er feststellen, wie viel Fleisch noch von so alten Knochen zu nagen war. Selbst schuld, dachte Fenoglio, warum musstest du dem Prinzen einen zahmen Bären zur Seite stellen. Ein Hund hätte es auch getan. Die Händler auf dem Markt erzählten jedem, der es hören wollte, der Bär sei ein verhexter Mensch, verzaubert von Feen oder Kobolden (von wem nun genau, darüber waren sie sich nicht einig), aber Fenoglio wusste auch dies besser. Der Bär war ein Bär, ein echter Bär, der es dem Schwarzen Prinzen hoch anrechnete, dass er ihn vor vielen Jahren von seinem Nasenring und seinem alten Herrn befreit hatte, denn der hatte ihn mit dem Dornenstock geschlagen, damit er auf den Märkten tanzte.
Noch sechs weitere Männer saßen mit dem Prinzen am Feuer.
Nur zwei von ihnen kannte Fenoglio. Der eine war ein Schauspieler, Fenoglio vergaß immer wieder seinen Namen. Der andere war ein Starker Mann, der sein Brot damit verdiente, auf den Marktplätzen Ketten zu zerreißen, erwachsene Männer in die Luft zu stemmen und Eisenstangen zu verbiegen. Sie alle schwiegen, als Fenoglio zwischen sie trat. Er war geduldet, doch zu ihnen gehörte er noch lange nicht.
Nur der Prinz lächelte ihm zu. »Ah, der Tintenweber!«, sagte er. »Bringst du uns ein neues Lied über den Eichelhäher?«
Fenoglio nahm den Becher mit heißem Honigwein entgegen, den ihm einer der Männer auf einen Wink des Prinzen reichte, und hockte sich auf die steinige Erde. Seine alten Glieder konnten keinen rechten Geschmack daran finden, auf dem Boden zu hocken, auch wenn die Nacht mild wie diese war, aber die Spielleute waren keine Freunde von Stühlen oder anderen Sitzgelegenheiten.
»Eigentlich bin ich hier, um dir das hier zu geben«, sagte er und griff unter seinen Kittel. Er sah sich um, bevor er dem Prinzen den versiegelten Brief reichte, aber in dem Gewimmel war kaum auszumachen, ob sie jemand beobachtete, der nicht zum Bunten Volk gehörte. Der Prinz nahm den Brief mit einem Kopfnicken entgegen und schob ihn sich unter den Gürtel. »Ich danke dir«, sagte er.
»Gern geschehen!«, erwiderte Fenoglio und versuchte, nicht allzu sehr auf den schlechten Atem des Bären zu achten. Der Prinz konnte nicht schreiben, ebenso wenig wie die meisten seiner bunten Untertanen, aber Fenoglio erledigte das gern für ihn, vor allem, wenn es um ein Schriftstück wie dieses ging. Der Brief war für einen Waldaufseher des Speckfürsten bestimmt. Drei Mal schon hatten seine Männer Spielfrauen und ihre Kinder auf der Straße überfallen. Niemanden scherte das, weder den Speckfürsten in seinem Kummer noch die Männer, die an seiner statt Recht sprechen sollten, denn es ging um Spielleute. Also würde ihr Anführer sich darum kümmern. Schon in der kommenden Nacht würde der Mann Fenoglios Brief auf seiner Schwelle finden. Was darin stand, würde ihn nicht mehr ruhig schlafen lassen und künftig hoffentlich von bunten Röcken fern halten. Fenoglio war ziemlich stolz auf seine Drohbriefe, fast ebenso stolz wie auf die Räuberlieder.