»Der beste, den es je gab.« Der Prinz warf dem Rußvogel einen schnellen Blick zu, aber der zeigte dem Bader gerade einen entzündeten Zahn. »Er galt als tot«, fuhr der Prinz mit gesenkter Stimme fort. »Seit mehr als zehn Jahren hat niemand von ihm gehört. Es gab tausend Geschichten darüber, wie und wo er gestorben ist, zum Glück scheinen sie alle nicht wahr zu sein. Aber das Mädchen und der Junge suchen nicht nur nach Staubfinger. Das Mädchen hat auch nach einem alten Mann gefragt, einem Dichter, der das Gesicht einer Schildkröte hat. Könnte das vielleicht auf dich passen?«
Fenoglio fand nicht ein Wort in seinem Kopf, das als Antwort getaugt hätte. Der Prinz griff nach seinem Arm und zog ihn auf die Füße. »Komm mit!«, sagte er, während hinter ihnen der Bär grunzend auf die Tatzen kam. »Die beiden waren halb verhungert, haben irgendwas erzählt davon, dass sie tief im Weglosen Wald waren. Die Frauen füttern sie gerade.«
Ein Mädchen und ein Junge. Staubfinger. Fenoglios Gedanken überschlugen sich, aber leider war sein Kopf nicht mehr der frischeste nach zwei Bechern Wein.
Unter einer Linde am Rand des Lagers hockten mehr als ein Dutzend Kinder im Gras. Zwei Frauen schenkten Suppe an sie aus. Gierig löffelten sie die dünne Brühe aus den Holzschalen, die sie in die schmutzigen Finger gedrückt bekamen.
»Nun sieh dir an, wie viele sie schon wieder eingesammelt haben!«, raunte der Prinz Fenoglio zu. »Wir werden noch alle verhungern wegen der weichen Herzen unserer Frauen.«
Fenoglio nickte nur, während er die mageren Gesichter musterte. Er wusste, wie oft der Prinz selbst hungrige Kinder auflas. Wenn sie sich nicht allzu dumm anstellten beim Jonglieren, Kopfstehen oder sonst einem Kunststück, das den Leuten ein Lachen aufs Gesicht und paar Münzen aus den Taschen lockte, dann nahm das Bunte Volk sie auf, ließ sie mit sich ziehen, von Markt zu Markt, von Ort zu Ort.
»Das da sind die beiden.« Der Prinz wies auf zwei Köpfe, die sich besonders tief über die Schalen beugten. Als Fenoglio auf sie zutrat, hob das Mädchen den Kopf, als hätte er ihren Namen gerufen. Ungläubig starrte sie ihn an - und ließ den Löffel sinken.
Meggie.
Fenoglio erwiderte ihren Blick so fassungslos, dass sie lächeln musste. Ja, sie war es tatsächlich. An das Lächeln erinnerte er sich sehr genau, auch wenn sie nicht oft Anlass dazu gehabt hatte, damals, in Capricorns Haus.
Mit einem Satz sprang sie auf, drängte sich an den anderen Kindern vorbei und schlang ihm die Arme um den Hals. »Ach, ich wusste, dass du noch hier bist!«, stieß sie hervor, zwischen Lachen und Weinen. »Aber musstest du unbedingt Wölfe in deiner Geschichte vorkommen lassen? Und dann die Nachtmahre und die Rotkappen. Sie haben Farid mit Steinen beworfen und uns mit ihren Krallenfingern ins Gesicht gegriffen. Zum Glück hat Farid es geschafft, Feuer zu machen, aber.«
Fenoglio öffnete den Mund - und klappte ihn hilflos wieder zu. Tausend Fragen füllten ihm den Kopf: Wie kam sie hierher? Was war mit Staubfinger? Wo war ihr Vater? Und was war mit Capricorn? War er tot? Hatte ihr Plan funktioniert? Wenn ja, wieso hieß es dann, dass Basta noch lebte? Wie summende Insekten übertönten die Fragen einander, und Fenoglio wagte nicht eine von ihnen zu stellen, während der Schwarze Prinz neben ihm stand und ihn nicht aus den Augen ließ.
»Ich sehe, du kennst die beiden«, stellte er fest.
Fenoglio nickte nur. Woher kannte er den Jungen, der neben Meggie gehockt hatte? Hatte er ihn nicht bei Staubfinger gesehen, damals, an jenem denkwürdigen Tag, an dem er zum ersten Mal einem seiner Geschöpfe gegenübergestanden hatte?
»Ähm, die zwei sind. Verwandte von mir«, stotterte er. Was für eine klägliche Lüge für einen Geschichtenerfinder!
Der Spott in den Augen des Prinzen schlug Funken. »Verwandte. so, so. Ich muss sagen, ähnlich sehen sie dir beide nicht.«
Meggie löste die Arme von Fenoglios Hals und starrte den Prinzen an.
»Meggie, darf ich vorstellen?«, sagte Fenoglio. »Der Schwarze Prinz.«
Der Prinz verneigte sich mit einem Lächeln vor ihr.
»Der Schwarze Prinz! Ja.« Meggie wiederholte seinen Namen fast andächtig. »Und das da ist sein Bär! Farid, komm her. Sieh doch!«
Farid, natürlich. Jetzt erinnerte Fenoglio sich. Meggie hatte oft von ihm gesprochen. Der Junge stand auf, aber nicht, bevor er noch hastig den letzten Rest Suppe aus seiner Schale geschlürft hatte. In sicherem Abstand von dem Bären blieb er hinter Meggie stehen.
»Sie wollte unbedingt mit!«, sagte er und fuhr sich mit dem Arm über den fettverschmierten Mund. »Wirklich! Ich wollte sie nicht herbringen, aber sie ist dickköpfig wie ein Kamel.«
Meggie wollte darauf etwas sicherlich nicht Freundliches erwidern, doch Fenoglio legte ihr den Arm um die Schultern. »Mein lieber Junge«, sagte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich darüber bin, dass Meggie hier ist! Man könnte fast sagen, sie ist das Einzige, was mir in dieser Welt noch zu meinem Glück fehlte!«
Hastig verabschiedete er sich von dem Prinzen und zog Meggie und Farid mit sich. »Kommt!«, raunte er, während er sich mit ihnen an den Zelten vorbeidrängte. »Wir haben viel zu bereden, unendlich viel, aber das tun wir besser in meiner Kammer, unbelauscht von fremden Ohren. Es ist ohnehin schon spät, und die Wache am Tor lässt uns nur bis Mitternacht wieder in die Stadt.«
Meggie nickte nur abwesend und betrachtete mit großen Augen das Treiben um sie her, aber Farid befreite seinen Arm unsanft aus Fenoglios Griff. »Nein, ich kann nicht mitkommen. Ich muss Staubfinger suchen!«
Fenoglio sah ihn ungläubig an. Es war also tatsächlich wahr? Staubfinger war - »Ja, er ist zurück«, sagte Meggie. »Die Frauen haben gesagt, Farid kann ihn vielleicht bei der Spielfrau finden, mit der er früher zusammen war. Sie hat einen Hof, dort oben auf dem Hügel.«
»Spielfrau?« Fenoglio blickte in die Richtung, in die Meggies Finger wies. Der Hügel, von dem sie sprach, war nur ein schwarzer Umriss in der mondhellen Nacht. Natürlich! Roxa-ne. Er erinnerte sich. Ob sie wirklich so wunderbar war, wie er sie beschrieben hatte?
Der Junge wippte ungeduldig auf den Zehen. »Ich muss gehen«, sagte er zu Meggie. »Wo kann ich dich finden?«
»In der Gasse der Schuster und Sattelmacher«, antwortete Fenoglio an Meggies Stelle. »Frag einfach nach Minervas Haus.«
Farid nickte - und sah immer noch Meggie an.
»Es ist keine gute Idee, sich bei Nacht auf den Weg zu machen«, sagte Fenoglio, auch wenn er das Gefühl hatte, dass der Junge nicht an seinem Rat interessiert war. »Die Straßen hier sind nicht gerade sicher. Erst recht nicht bei Nacht. Räuber, Landstreicher.«
»Ich weiß mich zu wehren.« Farid zog ein Messer aus dem
Gürtel. »Pass auf dich auf.« Er griff nach Meggies Hand, dann drehte er sich abrupt um und verschwand zwischen den Spielleuten. Fenoglio entging nicht, dass Meggie sich noch einige Male nach ihm umsah.
»Himmel, der arme Kerl!«, brummte er, während er ein paar Kinder aus dem Weg scheuchte, die ihn schon wieder wegen einer Geschichte anbettelten. »Er ist verliebt in dich, oder?«
»Lass das!« Meggie zog ihre Hand aus der seinen, aber er hatte sie zum Lächeln gebracht.
»Schon gut, ich halte meinen Mund! Weiß dein Vater, dass du hier bist?«
Das war die falsche Frage. Das schlechte Gewissen stand ihr auf die Stirn geschrieben.
»Oje! Nun gut, das wirst du mir alles erzählen. Wie du hergekommen bist, was das Gerede über Basta und Staubfinger bedeutet, einfach alles! Du bist groß geworden! Oder bin ich geschrumpft? Gott, Meggie, was bin ich froh, dass du hier bist! Nun werden wir diese Geschichte wieder an die Zügel nehmen! Mit meinen Worten und deiner Stimme.«
»An die Zügel nehmen? Wie meinst du das?« Misstrauisch musterte sie sein Gesicht. Genauso hatte sie ihn damals auch oft angesehen, als sie Capricorns Gefangene gewesen waren, die Stirn gerunzelt, die Augen so klar, als könnten sie ihm geradewegs ins Herz blicken. Aber dies war nicht der Ort für Erklärungen.