Resa umklammerte Mortimers Arm. Mit einem Lächeln trat Mortola auf sie zu. »Ja, Täubchen, dich werde ich auch hier lassen!«, sagte sie und kniff ihr grob in die Wange. »Das wird wehtun, wenn ich ihn dir jetzt wieder fortnehme, nicht wahr? Wo du ihn doch gerade erst zurückbekommen hast. Nach all den Jahren.«
Mortola gab Basta einen Wink und er griff grob nach Resas Arm. Sie wehrte sich, klammerte sich immer noch an Morti-mer, mit so verzweifeltem Gesicht, dass es Elinor das Herz zerschnitt. Aber als sie ihr zu Hilfe kommen wollte, trat der Schrankmann ihr in den Weg. Und Mortimer löste Resas Hand sanft von seinem Arm.
»Es ist schon gut«, sagte er. »Schließlich bin ich der Einzige aus der Familie, der noch nicht in der Tintenwelt war. Und ich versprech dir, ich komm nicht ohne Meggie zurück.«
»Richtig, weil du nämlich gar nicht zurückkommen wirst!«, höhnte Basta, während er Resa grob auf Elinor zustieß.
Und Mortola lächelte immer noch. Elinor hätte sie so gern geschlagen. Tu doch etwas, Elinor!, dachte sie. Aber was konnte sie tun? Mortimer festhalten? Das Blatt zerreißen, das das Mondgesicht so sorgfältig auf ihrer Vitrine glatt strich?
»Also, können wir jetzt endlich anfangen?«, fragte Orpheus und leckte sich die Lippen, als könnte er es kaum erwarten, seine Kunst erneut zu demonstrieren.
»Sicher.« Mortola stützte sich schwer auf ihren Stock und winkte Basta an ihre Seite.
Orpheus warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Du sorgst dafür, dass er Staubfinger in Ruhe lässt, stimmt’s?«, sagte er zu Mortola. »Du hast es versprochen!«
Basta zog sich den Finger über die Kehle und zwinkerte ihm zu.
»Hast du das gesehen?« Orpheus’ schöne Stimme überschlug sich. »Ihr habt es versprochen! Das war meine einzige Bedingung. Ihr lasst Staubfinger in Frieden, oder ich lese nicht ein einziges Wort!«
»Ja, ja, schon gut, schrei nicht so herum, du ruinierst dir noch die Stimme«, erwiderte Mortola ungeduldig. »Wir haben Zauberzunge. Was interessiert mich da noch der elende Feuerfresser? Lies jetzt endlich!«
»He! Wartet!« Es war das erste Mal, dass Elinor die Stimme des Schrankmanns hörte. Sie war seltsam hoch für einen Mann seiner Größe - als spräche ein Elefant mit der Stimme einer Grille. »Was passiert mit den anderen, wenn ihr fort seid?«
»Was weiß ich?« Mortola zuckte die Achseln. »Lass sie von dem fressen, was für uns herauskommt. Mach die Dicke zu deiner Magd und Darius zum Stiefelputzer. Was immer. Es ist mir gleich. Fang nur endlich an zu lesen!«
Orpheus gehorchte.
Er trat auf die Vitrine zu, auf der das Blatt mit seinen Worten wartete, räusperte sich und rückte die Brille zurecht.
»Capricorns Festung lag dort, wo man im Wald die ersten Riesenspuren fand.« Die Worte flossen ihm über die Lippen wie Musik. »Schon lange hatte man keinen von ihnen mehr dort gesehen, aber andere Wesen, furchterregender als sie, strichen nachts um die Mauern - Nachtmahre und Rotkappen, ebenso grausam wie die Menschen, die die Festung errichtet hatten. Aus grauen Steinen war sie erbaut, grau wie der felsige Hang, an den sie sich lehnte...«
Tu etwas!, dachte Elinor. Tu etwas, jetzt oder nie, reiß dem Mondgesicht das Papier aus der Hand, tritt der Elster den Stock weg. aber sie konnte kein Glied rühren.
Was für eine Stimme! Und der Zauber der Worte - wie sie ihr das Hirn verklebten, sie schläfrig vor Entzücken machten. Als Orpheus von Stechwinde und Tamariskenblüten las, glaubte Elinor sie zu riechen. Er liest tatsächlich so gut wie Mortimer! Das war der einzige selbstständige Gedanke, der sich in ihrem Kopf formte. Den anderen ging es nicht besser, alle starrten sie auf Orpheus’ Lippen, als könnten sie das nächste Wort kaum erwarten: Darius, Basta, der Schrankmann, selbst Mortimer, ja, sogar die Elster. Reglos lauschten sie, eingesponnen vom Klang der Worte. Nur eine bewegte sich. Resa. Elinor sah, wie sie gegen den Zauber ankämpfte wie gegen tiefes Wasser, wie sie hinter Mortimer trat und die Arme um ihn schlang.
Und dann waren sie alle verschwunden, Basta, die Elster, Mortimer und Resa.
Mortolas Rache
Ich wage es nicht, wage es nicht zu schreiben: wenn du stirbst.
Pablo Neruda, Die Tote
Es war, als legte sich ein Bild, durchscheinend wie bemaltes Glas, über das, was Resa noch eben gesehen hatte - Elinors Bibliothek, die Bücherrücken, einer neben dem anderen, so sorgsam von Darius sortiert - das alles verschwamm, und ein anderes Bild wurde deutlicher. Steine fraßen die Bücher, Mauern, geschwärzt von Ruß, ersetzten die Regale. Gras wuchs aus Elinors Holzdielen, und die Decke, weiß verputzt, wich einem von dunklen Wolken bedeckten Himmel.
Resas Arme schlangen sich immer noch um Mo. Er war das Einzige, was nicht verschwand, und sie ließ ihn nicht los, aus Angst, ihn doch wieder zu verlieren, so wie schon einmal. Vor langer Zeit.
»Resa?« Sie sah den Schreck in seinen Augen, als er sich umdrehte und begriff, dass sie mit ihm gekommen war. Schnell presste sie ihm die Hand auf den Mund. Zu ihrer Linken rankte Geißblatt an den geschwärzten Mauern empor. Mo streckte die Hand nach den Blättern aus, als müssten seine Finger erst fühlen, was seine Augen längst sahen. Resa erinnerte sich, dass sie es damals ebenso gemacht, dass auch sie alles betastet hatte, fassungslos darüber, dass die Welt hinter den Buchstaben so wirklich war.
Hätte sie die Worte nicht von Orpheus’ Lippen gehört, Resa hätte nicht erkannt, wohin Mortola sie alle hatte lesen las-sen. Capricorns Festung hatte so anders ausgesehen, als sie zum letzten Mal auf dem Hof gestanden hatte. Überall waren Männer gewesen, bewaffnete Männer, auf den Treppen, vor dem Tor und auf der Mauer. Dort, wo jetzt nur noch verkohlte Balken lagen, hatte das Backhaus gestanden, und drüben neben der Treppe hatten sie und die anderen Mägde die Wandbehänge ausgeklopft, mit denen Mortola nur zu besonderen Gelegenheiten die kahlen Räume hatte schmücken lassen.
Die Räume gab es nicht mehr. Die Mauern der Festung waren eingestürzt und schwarz vom Feuer. Ruß bedeckte die Steine, als hätte sie jemand mit schwarzem Pinsel bemalt, und auf dem einst so kahlen Hof wucherte Schafgarbe. Schafgarbe liebte verbrannte Erde, überall wuchs sie, und dort, wo einstmals eine schmale Treppe zum Wachturm hinaufgeführt hatte, drängte der Wald in Capricorns Unterschlupf. Junge Bäume wurzelten zwischen den Ruinen, als hätten sie nur darauf gewartet, den Platz zurückzuerobern, den das Menschenhaus für sich beansprucht hatte. Disteln wuchsen in den leeren Fensterhöhlen, Moos bedeckte die zerstörten Treppen, und Efeu wucherte bis hinauf zu den verbrannten Holzstümpfen, die einst Capricorns Galgen gewesen waren. Resa hatte viele Männer dort oben hängen sehen.
»Was soll das?« Mortolas Stimme hallte von den toten Mauern wider. »Was soll diese jämmerliche Ruine? Das ist nicht die Festung meines Sohnes!«
Resa trat dichter an Mos Seite. Er war immer noch wie betäubt, fast, als wartete er auf den Moment, in dem er aufwachen und statt der Steine wieder Elinors Bücher sehen würde. Resa wusste nur zu gut, wie er sich fühlte. Für sie war es beim zweiten Mal nicht mehr so schlimm. Schließlich war sie diesmal nicht allein und wusste, was geschehen war. Aber Mo schien alles vergessen zu haben, Mortola, Basta - und warum sie ihn hergebracht hatten.
Resa jedoch hatte es nicht vergessen, und mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Mortola durch die Schafgarbe auf die verkohlten Mauern zustolperte und die Steine betastete, als fahre sie mit den Fingern ihrem toten Sohn übers Gesicht.