Die Schritte wurden lauter. Ja, es waren Schritte, kein Zweifel, die Schritte eines Menschen. Und dann plötzlich war es still, bedrohlich still. Resa spürte den Messergriff zwischen den Fingern. Hastig zog sie das Messer aus Mos Tasche, ließ es aufschnappen. Sie wagte kaum, sich umzudrehen, aber schließlich tat sie es doch.
Eine alte Frau stand da, wo einmal Capricorns Tor gewesen war. Klein wie ein Kind sah sie aus zwischen den Pfeilern, die immer noch hoch aufragten. Sie trug einen Sack über der Schulter und ein Kleid, das aussah, als hätte sie es aus Nesseln geknüpft. Ihre Haut war braun gebrannt, das Gesicht so zerfurcht wie Baumrinde. Ihr graues Haar war kurz wie Marderhaar, Blätter hingen darin und Kletten.
Ohne ein Wort kam sie auf Resa zu. Ihre Füße waren nackt, aber die Nesseln und Disteln, die im Hof der zerstörten Festung wuchsen, schienen sie nicht zu stören. Mit ausdruckslosem Gesicht schob sie Resa zur Seite und beugte sich über Mo. Ungerührt schob sie den blutigen Stofffetzen zur Seite, den Resa immer noch auf die Wunde presste.
»So eine Wunde hab ich noch nie gesehen«, stellte sie fest mit einer Stimme, die so heiser klang, als würde sie nicht oft benutzt. »Was hat sie verursacht?«
»Ein Gewehr«, antwortete Resa. Es fühlte sich seltsam an, wieder die Zunge statt der Hände zum Sprechen zu benutzen.
»Ein Gewehr?« Die Alte sah sie an, schüttelte den Kopf und beugte sich erneut über Mo. »Ein Gewehr. Was soll das nun wieder sein?«, murmelte sie, während sie mit braunen Fingern die Wunde betastete. »Ja, neue Waffen erfinden sie schneller, als ein Küken aus dem Ei schlüpft, und ich kann mir einfallen lassen, wie ich wieder zusammenflicke, was sie zerstechen und zerschneiden.« Sie legte Mo das Ohr an die Brust, lauschte und richtete sich mit einem Seufzer wieder auf. »Hast du ein Hemd unter dem Kleid?«, fragte sie barsch, ohne Resa anzusehen. »Zieh es aus und zerreiß es. Ich brauch lange Streifen.« Dann griff sie in einen ledernen Beutel an ihrem Gürtel, zog ein Fläschchen heraus und tränkte einen der Stoffstreifen, den Resa ihr hinhielt, damit. »Press das drauf!«, sagte sie und drückte ihr den Stoff zwischen die Finger. »Die Wunde ist schlimm. Vielleicht muss ich schneiden oder brennen, aber nicht hier. Wir zwei können ihn allein nicht tragen, aber die Spielleute haben ein Lager nicht weit von hier, für ihre Alten und Kranken. Vielleicht find ich dort Hilfe.« Sie verband die Wunde mit so flinken Fingern, als hätte sie nie etwas anderes getan. »Halt ihn warm!«, sagte sie, während sie sich wieder erhob und den Sack über die Schulter warf. Dann wies sie auf das Messer, das Resa ins Gras hatte fallen lassen. »Behalte das bei dir. Ich versuche, vor den Wölfen zurück zu sein. Und sollte sich eine von den Weißen Frauen sehen lassen, pass auf, dass sie ihn nicht ansieht oder ihm seinen Namen zuflüstert.«
Dann war sie fort, ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Und Resa kniete auf dem Hof von Capricorns Festung, die Hand auf den blutgetränkten Verband gepresst, und lauschte Mos Atem.
»Hörst du? Meine Stimme ist zurück«, flüsterte sie ihm zu, »als hätte sie hier auf dich gewartet.« Aber Mo regte sich nicht. Und sein Gesicht war so blass, als hätten die Steine und das Gras all sein Blut getrunken.
Resa wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie hinter sich das Flüstern hörte, unverständlich und sacht wie Regen. Als sie sich umsah, stand sie da, auf der zerstörten Treppe, eine Weiße Frau, verschwommen wie ein Spiegelbild auf dem Wasser. Resa wusste nur zu gut, was ihr Erscheinen bedeutete. Oft genug hatte sie Meggie von den Weißen Frauen erzählt. Nur eines lockte sie an, schneller als das Blut die Wölfe: das Stocken des Atems, ein Herz, das immer schwächer schlug.
»Sei still!«, schrie Resa die bleiche Gestalt an, während sie sich schützend über Mos Gesicht beugte. »Verschwinde und wag nicht, ihn anzusehen. Er geht nicht mit dir, nicht heute!« Sie flüstern deinen Namen, wenn sie dich mitnehmen wollen, hatte Staubfinger ihr erzählt. Aber sie wissen Mos Namen nicht!, dachte Resa. Sie können ihn nicht wissen, weil er nicht hierher gehört! Die Ohren hielt sie ihm trotzdem zu.
Die Sonne begann unterzugehen. Unaufhaltsam versank sie hinter den Bäumen. Zwischen den verbrannten Mauern wurde es dunkel, und die bleiche Gestalt auf der Treppe wurde immer deutlicher. Reglos stand sie da und wartete.
Geburtstagsmorgen
»Nein, nicht ohne eine Wunde in der Seele werde ich diese Stadt verlassen.
Zu viele Splitter meines Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und zu zahlreich sind die Kinder meiner Sehnsucht, die nackt zwischen diesen Hügeln wandeln.«
Khalil Gibran, Der Prophet
Meggie schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hatte geträumt, schlimm geträumt, aber sie wusste nicht, wovon. Nur die Angst war noch da, wie ein Stechen im Herzen. Lärm drang an ihre Ohren, Geschrei und lautes Lachen, Kinderstimmen, Hundegebell, das Grunzen von Schweinen, Hämmern, Sägen. Sie spürte Sonnenlicht auf dem Gesicht, und die Luft, die ihr in die Nase zog, schmeckte nach Mist und frisch gebackenem Brot. Wo war sie? Erst als sie Fenoglio an seinem Schreibpult sitzen sah, fiel es ihr wieder ein - Ombra. Sie war in Ombra.
»Guten Morgen!« Fenoglio hatte ganz offensichtlich hervorragend geschlafen. Er sah sehr zufrieden aus mit sich und der Welt. Nun ja, wer sonst sollte mit ihr zufrieden sein, wenn nicht der, der sie erschaffen hatte? Neben ihm stand der Glasmann, den Meggie gestern schlafend neben dem Federkrug entdeckt hatte.
»Rosenquarz, begrüß unseren Gast!«, sagte Fenoglio.
Der Glasmann verbeugte sich steif in Meggies Richtung, nahm die tropfende Feder entgegen, strich sie an einem Fetzen Stoff ab und stellte sie zurück in den Krug zu den anderen. Dann beugte er sich über das, was Fenoglio geschrieben hatte.
»Ah. Zur Abwechslung mal kein Lied über diesen Eichelhäher!«, stellte er spitz fest. »Bringt Ihr das hier heute auf die Burg?«
»In der Tat!«, antwortete Fenoglio von oben herab. »Und jetzt sorg endlich dafür, dass die Tinte nicht verwischt.«
Der Glasmann rümpfte die Nase, als sei ihm so etwas noch nie passiert, griff mit beiden Händen in die Schale Sand, die neben den Federn stand, und warf die feinen Körner mit geübtem Schwung auf das frisch beschriebene Pergament.
»Rosenquarz, wie oft soll ich es dir noch sagen?«, fuhr Fenoglio ihn an. »Du nimmst zu viel Sand und mit zu viel Schwung, so verschmiert alles.«
Der Glasmann klopfte sich ein paar Sandkörner von den Händen und verschränkte mit gekränkter Miene die Arme. »Dann macht es doch besser!« Seine Stimme erinnerte Meggie an das Geräusch, das entstand, wenn man mit den Fingernägeln gegen ein Glas klopfte. »Ja, wahrlich, das würde ich gern sehen!«, sagte er spitz und musterte Fenoglios klobige Finger mit solcher Verachtung, dass Meggie lachen musste.
»Ich auch!«, sagte sie, während sie sich ihr Kleid über den Kopf zog. Ein paar vertrocknete Blüten aus dem Weglosen Wald hafteten noch daran, und Meggie musste an Farid denken. Ob er Staubfinger gefunden hatte?
»Hört Ihr?« Rosenquarz warf ihr einen wohlwollenden Blick zu. »Sie klingt nach einem klugen Mädchen.«
»O ja, Meggie ist sehr klug«, antwortete Fenoglio. »Wir zwei haben einiges zusammen erlebt. Nur ihr ist es zu verdanken, dass ich jetzt hier sitze und einem Glasmann erklären muss, wie man Sand auf die Tinte wirft.«