»Sieh an, der König der Spielleute! Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, steckte dein Kopf in einem Pranger, auf dem Hof meiner Burg. Wann stattest du uns erneut einen Besuch ab?« Die Stimme des Natternkopfes drang über den ganzen stillen Hof. Sie klang sehr tief - als käme sie aus dem schwärzesten Innern seines plumpen Körpers. Meggie trat unwillkürlich dichter an Fenoglios Seite. Der Schwarze Prinz aber verbeugte sich, allerdings so tief, dass Spott aus der Verneigung wurde. »Es tut mir Leid«, erwiderte er so laut, dass jeder es hören konnte. »Aber dem Bären gefiel Eure Gastfreundschaft nicht. Der Pranger, sagt er, war etwas zu eng für seinen Hals.«
Meggie sah, wie der Mund des Natternkopfes sich zu einem bösen Lächeln verzog. »Nun, ich könnte für euren nächsten Besuch einen Strick bereithalten, der genau passt, und einen Galgen aus Eichenholz, der selbst einen so fetten alten Bären trägt wie deinen«, sagte er.
Der Schwarze Prinz drehte sich zu seinem Bären um und tat, als bespräche er sich mit ihm. »Es tut mir Leid«, sagte er, während der Bär ihm mit einem Grunzen die Tatzen um den Hals schlang, »der Bär sagt, er liebt den Süden, aber Euer Schatten lastet einfach zu dunkel darauf, und er will nur kommen, wenn auch der Eichelhäher Euch die Ehre erweist.«
Ein leises Raunen lief durch die Menge - und verstummte, als der Natternkopf sich im Sattel umdrehte und seinen Salamanderblick über die Umstehenden schweifen ließ.
»Außerdem«, fuhr der Prinz mit lauter Stimme fort, »wüss-te der Bär gern, warum Ihr den Pfeifer nicht an einer silbernen Kette hinter Eurem Pferd hertraben lasst, so wie es sich für einen handzahmen Spielmann wie ihn gehört?«
Der Pfeifer riss sein Pferd herum, aber bevor er es auf den Schwarzen Prinzen zutreiben konnte, hob der Natternkopf die Hand. »Ich werde dir Bescheid geben lassen, sobald der Eichelhäher mein Gast ist!«, sagte er, während der Silbernasige widerstrebend an seinen Platz zurückritt. »Es wird nicht mehr lange dauern, glaub mir. Ich habe den Galgen schon in Auftrag gegeben.« Dann gab er seinem Pferd die Sporen, und die Gepanzerten setzten sich erneut in Bewegung. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Letzte durch das Tor verschwunden war.
»Ja, reite nur!«, flüsterte Fenoglio, während der Hof der Burg sich langsam wieder mit sorglosem Lärm füllte. »Sieht sich um hier, als würde ihm schon alles gehören, glaubt, er kann sich in meiner Welt breit machen wie ein Geschwür und eine Rolle spielen, die ich ihm nicht geschrieben habe.«
Die Lanze des Wächters ließ ihn abrupt verstummen. »Also gut, Dichter!«, sagte Anselmo. »Nun kannst du rein. Na geh schon!«
»Na geh schon?«, donnerte Fenoglio. »Spricht man so mit dem Dichter des Fürsten? Hört zu! Ihr bleibt besser hier«, sagte er zu den beiden Kindern. »Esst nicht zu viel Kuchen. Kommt dem Feuerspucker nicht zu nahe, denn er ist ein Stümper, und lasst den Bären des Prinzen in Ruhe. Verstanden?«
Die zwei nickten - und liefen auf der Stelle zum nächsten Kuchenstand. Fenoglio aber griff nach Meggies Hand und schritt hoch erhobenen Hauptes mit ihr an den Wachen vorbei.
»Fenoglio!«, fragte sie mit gesenkter Stimme, als das Tor sich hinter ihnen schloss und der Lärm des Äußeren Hofes verklang. »Wer ist der Eichelhäher?«
Es war kühl hinter dem großen Tor, als hätte der Winter sich hier ein Nest gebaut. Bäume beschatteten einen weiten Hof, es roch nach Rosen und Blüten, deren Namen Meggie nicht kannte, und in einem Steinbecken, rund wie der Mond,
spiegelte sich der Teil der Burg, in dem der Speckfürst lebte.
»Ach, den gibt es nicht!«, antwortete Fenoglio nur, während er sie ungeduldig hinter sich herwinkte. »Aber das erklär ich dir später. Nun komm. Wir müssen dem Speckfürsten endlich meine Verse bringen, sonst bin ich die längste Zeit sein Hofdichter gewesen.«
Der Fürst der Seufzer
»Ich mag nicht«, konnte er zum König nicht sagen, denn wie sollte er sich sonst sein Brot verdienen?
Der König im Korbe, Ital. Volksmärchen
Die Fenster des Saales, in dem der Speckfürst Fenoglio empfing, waren verhängt mit schwarzen Tüchern. Wie in einer Gruft roch es, nach vertrockneten Blumen und Kerzenruß. Die Kerzen brannten vor Standbildern, die alle dasselbe Gesicht zeigten, mal schlechter, mal besser getroffen. Cosimo der Schöne!, dachte Meggie. Aus unzähligen Marmoraugen starrte er auf sie herab, während sie an Fenoglios Seite auf seinen Vater zuschritt.
Der Sessel, in dem der Speckfürst thronte, war umrahmt von zwei hochlehnigen Stühlen. Auf dem Stuhl zu seiner Linken lag nur ein Helm auf dem dunkelgrünen Polster, geschmückt mit Pfauenfedern, das Metall so blank poliert, als wartete er auf seinen Besitzer. Auf dem rechten Stuhl saß ein Junge, vielleicht fünf, sechs Jahre alt, er trug ein Wams aus schwarzem Brokat, so über und über mit Perlen bestickt, als sei es mit Tränen bedeckt. Das musste das Geburtstagskind sein. Jacopo, Enkel des Speckfürsten, aber auch Enkel des Natternkopfes.
Der Junge blickte gelangweilt drein. Unruhig schlenkerte er die kurzen Beine, als könnte er sie kaum davon abhalten, nach draußen zu laufen, zu den Gauklern und den süßen Kuchen und dem Sessel, der schon auf ihn wartete, auf der mit Stechwinden und Rosen geschmückten Tribüne. Sein Großvater dagegen sah so aus, als habe er nicht vor, sich jemals wieder zu erheben. Kraftlos wie eine Puppe saß er da, in seinen zu weiten schwarzen Gewändern, wie gelähmt von den Augen seines toten Sohnes. Nicht sonderlich groß, aber fett wie zwei Männer, so hatte Resa ihn beschrieben: selten anzutreffen ohne etwas zu essen in den speckigen Fingern, immer etwas außer Atem von all dem Gewicht, das seine nicht sonderlich kräftigen Beine umhertragen mussten, und doch stets bester Laune.
Der Fürst, den Meggie im Halbdunkel seiner Burg sitzen sah, war nichts von alledem. Sein Gesicht war blass und seine Haut schlug Falten, als hätte sie einstmals einem größeren Mann gehört. Der Kummer hatte ihm den Speck von den Gliedern geschmolzen, und sein Gesicht war so starr, als wäre es eingefroren an dem Tag, an dem man ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes gebracht hatte. Nur in seinen Augen saß immer noch das Entsetzen, die Fassungslosigkeit darüber, was das Leben ihm angetan hatte.
Außer seinem Enkel und den Wachen, die schweigend im Hintergrund standen, waren nur noch zwei Frauen bei ihm. Die eine hielt demütig den Kopf gesenkt, wie eine Dienerin, obwohl sie ein Kleid trug, das auch einer Fürstin angestanden hätte. Ihre Herrin stand zwischen dem Speckfürsten und dem leeren Stuhl, auf dem der federgeschmückte Helm lag. Violante!, dachte Meggie. Tochter des Natternkopfes und Cosimos Witwe. Ja, das musste sie sein, die Hässliche, wie sie alle nannten. Fenoglio hatte Meggie von ihr erzählt - und betont, dass sie zwar seiner Feder entstammte, aber stets bloß als Nebenfigur gedacht gewesen war: das unglückliche Kind einer unglücklichen Mutter und eines sehr schlechten Vaters. »Eine absurde Idee, aus ihr die Frau von Cosimo dem Schönen zu machen!«, hatte Fenoglio gesagt. »Aber ich sage es ja, diese Geschichte spielt verrückt!«