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An der Tür kam ihnen Tullio mit dem Spielmann entgegen. Er hüpfte und sprang vor ihm her wie ein struppiges, abgerichtetes Tier. Der Spielmann trug Schellen am Gürtel und eine Laute auf dem Rücken. Er war ein langer, hagerer Kerl mit missmutigem Mund und so bunt gekleidet, dass der Schwanz eines Pfaus dagegen verblasst wäre.

»Der Kerl soll lesen können?«, raunte Fenoglio Meggie zu, während er sie durch die Tür schob. »Das halte ich für ein Gerücht! Außerdem ist sein Gesang so wohlklingend wie das Gekrächz einer Krähe. Lass uns bloß verschwinden, bevor er meine armen Verse zwischen seine Pferdezähne nimmt!«

Zehn Jahre

Zeit ist ein Pferd, das im Herzen rennt, ein Pferd Ohne Reiter auf einer Straße bei Nacht.

Der Verstand sitzt da, lauschend, und hört es vorbeiziehen.

Wallace Stevens, All the Vrelud.es to Felicity

Staubfinger lehnte an der Burgmauer, hinter den Ständen, zwischen denen sich die Menschen drängten. Der Duft von Honig und heißen Maronen zog ihm in die Nase, und hoch über ihm balancierte der Seiltänzer, dessen blaue Gestalt ihn aus der Ferne so sehr an Wolkentänzer erinnerte. Er hielt eine lange Stange, winzige Vögel hockten darauf, rot wie Blutstropfen, und jedes Mal, wenn der Tänzer die Richtung änderte - leichtfüßig, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt als auf einem schwankenden Seil zu stehen -, flogen die Vögel auf und schwirrten schrill zwitschernd um ihn herum. Der Marder auf Staubfängers Schulter sah zu ihnen hinauf und leckte sich das runde Maul. Er war noch sehr jung, kleiner und zierlicher als Gwin, nicht halb so bissig und, was das Wichtigste war, er fürchtete das Feuer nicht. Abwesend kraulte Staubfinger ihm den gehörnten Kopf. Schon kurz nach seiner Ankunft auf Roxanes Hof hatte er ihn hinter ihrem Stall gefangen, als er versucht hatte, sich an die Hühner heranzupirschen. Schleicher hatte er ihn getauft, weil das kleine Biest es liebte, sich lautlos anzuschleichen und ihn dann so plötzlich anzuspringen, dass es ihn fast umwarf. Bist du verrückt?, hatte er sich selbst gefragt, als er ihn mit einem frischen Ei zu sich gelockt hatte. Es ist ein Marder. Woher willst du wissen, dass es dem Tod nicht gleich ist, welchen Namen er trägt? Aber er hatte ihn trotzdem behalten. Vielleicht hatte er ja all seine Angst in der anderen Welt gelassen, die Angst, die Einsamkeit, das Unglück.

Schleicher lernte schnell, er sprang durch die Flammen, als hätte er nie etwas anderes getan. Es würde leicht sein, mit ihm auf den Märkten ein paar Münzen zu verdienen, mit ihm und dem Jungen.

Der Marder stieß Staubfinger die Schnauze gegen die Wange. Vor der leeren Tribüne, die immer noch auf das Geburtstagskind wartete, bauten ein paar Gaukler einen Turm aus Menschenleibern. Farid hatte Staubfinger überreden wollen, auch etwas von seiner Kunst darzubieten, aber ihm war an diesem Tag nicht danach, angestarrt zu werden. Er wollte selber schauen, wollte sich satt sehen an all dem, was er so lange vermisst hatte. Deshalb trug er auch nur die Kleider, die Ro-xane ihm von ihrem toten Mann gegeben hatte. Offenbar waren sie fast gleich groß gewesen. Armer Hund! Weder Orpheus noch Zauberzunge konnten ihn von dort zurückbringen, wo er war.

»Warum verdienst du heute nicht zur Abwechslung mal das Geld?«, hatte er zu Farid gesagt. Der Junge war vor Stolz erst rot und dann kreidebleich geworden - und hatte sich ins Getümmel gestürzt. Er lernte schnell. Nur ein winziges Bröck-chen von dem heißen Honig und Farid sprach schon mit den Flammen, als wäre er mit den Worten auf der Zunge geboren worden. Natürlich sprangen sie nicht so willig aus der Erde wie bei ihm, wenn der Junge mit den Fingern schnippte, aber wenn er das Feuer mit leiser Stimme rief, sprach es schon mit ihm - herablassend, spottend, aber es antwortete.

»Und er ist doch dein Sohn!«, hatte Roxane gesagt, als Farid sich am frühen Morgen fluchend einen Eimer Wasser aus dem Brunnen gezogen hatte, um sich die verbrannten Finger zu kühlen. »Ist er nicht!«, hatte Staubfinger erwidert - und in ihren Augen gesehen, dass sie ihm nicht glaubte.

Bevor sie zur Burg aufgebrochen waren, hatte er mit Farid noch ein paar Kunststücke geübt und Jehan hatte zugesehen. Doch als Staubfinger ihn näher gewinkt hatte, war er davongelaufen. Farid hatte ihn dafür laut verspottet, aber Staubfinger hatte ihm den Mund zugehalten. »Das Feuer hat seinen Vater gefressen, hast du das vergessen?«, hatte er ihm zugeraunt, und Farid hatte beschämt den Kopf gesenkt.

Wie stolz er zwischen den anderen Gauklern stand. Staubfinger schob sich zwischen den Ständen hindurch, um ihn besser sehen zu können. Er hatte sein Hemd ausgezogen, wie Staubfinger es auch manchmal tat - brennender Stoff war gefährlicher als ein Brandfleck auf der Haut, und den nackten Körper konnte man leicht mit Fett gegen die leckenden Feuerzungen schützen. Der Junge machte seine Sache gut, so gut, dass selbst die Händler so gebannt zu ihm hinüberstarrten, dass Staubfinger ein paar Feen aus den Käfigen befreien konnte, in die man sie gesteckt hatte, um sie irgendeinem Dummkopf als Glücksbringer zu verkaufen. Kein Wunder, dass Ro-xane dich verdächtigt, sein Vater zu sein!, dachte er. Dir schwillt ja die Brust vor Stolz, wenn du ihm zusiehst. Gleich neben Farid gaben ein paar Possenreißer ihre derben Scherze zum Besten, zu seiner Rechten rang der Schwarze Prinz mit seinem Bären, und trotzdem blieben immer mehr Leute bei dem Jungen stehen, der so selbstvergessen dastand und mit dem Feuer spielte. Staubfinger beobachtete, wie der Rußvogel die Fackeln sinken ließ und neidisch herübersah. Er würde es nie lernen. Er war immer noch so schlecht wie vor zehn Jahren.

Farid verbeugte sich, und ein Regen von Münzen fiel in die Holzschale, die Roxane ihm mitgegeben hatte. Stolz blickte er zu Staubfinger herüber. Er hungerte nach Lob wie ein Hund nach einem Knochen, und als Staubfinger in die Hände klatschte, wurde er rot vor Glück. Was für ein Kind er noch war, obwohl er ihm vor ein paar Monaten stolz die ersten Bartstoppeln an seinem Kinn gezeigt hatte!

Staubfinger schob sich an zwei Bauern vorbei, die um ein paar Ferkel feilschten, als das Tor zur Inneren Burg sich erneut öffnete - diesmal nicht für den Natternkopf wie beim letzten Mal, als er sich noch gerade hinter einem Kuchenstand vor den suchenden Blicken des Pfeifers hatte verbergen können. Nein. Offenbar erschien endlich das Geburtstagskind selbst auf seinem Fest - und seine Mutter würde den Jungen begleiten, mitsamt ihrer Dienerin. Wie viel schneller sein dummes Herz plötzlich schlug. »Sie hat deine Haarfarbe«, hatte Roxane gesagt, »und meine Augen.«

Die fürstlichen Pfeifer machten das Beste aus ihrem Auftritt. Stolz wie Gockel standen sie da und reckten ihre Fanfaren in die Luft. Alle freien Spielleute rümpften die Nase über die, die ihre Kunst nur an einen Herrn verkauften. Dafür waren die anderen besser gekleidet: nicht lumpenbunt wie ihresgleichen auf der Straße, sondern in den Farben ihres Fürsten. Für die Pfeifer des Speckfürsten hieß das Grün und Gold.

Seine Schwiegertochter trug Schwarz. Cosimo der Schöne war erst knapp ein Jahr tot, aber sicher hatte es schon einige Anwärter auf die junge Witwe gegeben, trotz des Males, dunkel wie ein Brandfleck, das ihr Gesicht entstellte. Die Menge umdrängte die Tribüne, sobald Violante mit ihrem Sohn Platz genommen hatte. Staubfinger musste auf ein leeres Fass steigen, um hinter all den Köpfen und Leibern einen Blick auf ihre Dienerin zu erhaschen.

Brianna stand hinter dem Jungen. Trotz des hellen Haares glich sie ihrer Mutter. Das Kleid, das sie trug, ließ sie sehr erwachsen aussehen, und doch entdeckte Staubfinger in ihrem Gesicht noch Spuren des kleinen Mädchens, das versucht hatte, ihm die brennenden Fackeln aus der Hand zu winden, oder wütend mit dem Fuß aufgestampft hatte, wenn er ihr nicht erlauben wollte, in die Funken zu fassen, die er vom Himmel regnen ließ.