Tintenwelt hatte Meggie den Ort genannt, von dem Mo so abfällig und ihre Mutter manchmal mit Sehnsucht sprach. Tintenwelt nach dem Buch, das von diesem Ort erzählte: Tintenherz. Das Buch war fort, aber die Erinnerungen ihrer Mutter waren so lebendig, als wäre kein Tag vergangen, seit sie dort gewesen war - in jener Welt aus Papier und Druckerschwärze, in der es Feen und Fürsten gab, Nixen, Feuerelfen
und Bäume, die in den Himmel zu wachsen schienen.
Unzählige Tage und Nächte hatte Meggie neben Resa gesessen und aufgeschrieben, was ihre Mutter mit den Fingern erzählte. Ihre Stimme hatte Resa in der Tintenwelt gelassen, und so erzählte sie ihrer Tochter entweder mit Stift und Papier oder mit den Händen von jenen Jahren - den schrecklichen Wunderjahren, wie sie sie nannte. Manchmal zeichnete sie auch, was sie mit ihren Augen gesehen, aber mit ihrer Zunge nicht länger beschreiben konnte: Feen, Vögel, fremdartige Blüten, mit ein paar Strichen aufs Papier gebannt und doch so echt, dass Meggie fast glaubte, sie selbst gesehen zu haben.
Zunächst hatte Mo die Notizbücher, in denen Meggie Resas Erinnerungen festhielt, selbst gebunden, eines schöner als das andere. Doch irgendwann hatte Meggie bemerkt, wie besorgt er sie beobachtete, wenn sie in ihnen blätterte, ganz versunken in die Bilder und Worte. Natürlich verstand sie sein Unbehagen, schließlich hatte er seine Frau für viele Jahre an diese Welt aus Buchstaben und Papier verloren. Wie sollte es ihm da gefallen, dass seine Tochter kaum noch an etwas anderes dachte? Ja, Meggie verstand Mo sehr gut, und trotzdem konnte sie nicht tun, was er verlangte - die Notizbücher fortschließen und die Tintenwelt für eine Weile vergessen.
Vielleicht wäre ihre Sehnsucht nicht ganz so groß gewesen, wären all die Feen und Kobolde noch da gewesen, all die fremdartigen Geschöpfe, die sie mitgebracht hatten aus Capri-corns verfluchtem Dorf. Doch es lebte nicht eines mehr in Elinors Garten. Die leeren Feennester klebten immer noch an den Bäumen, auch die Höhlen gab es noch, die die Kobolde gegraben hatten, aber ihre Bewohner waren verschwunden. Zuerst hatte Elinor geglaubt, sie wären fortgelaufen, gestohlen worden, was auch immer - doch dann hatten sie die Asche gefunden. Fein wie Staub hatte sie das Gras im Garten bedeckt, graue Asche, ebenso grau wie der Schatten, aus dem Elinors fremdartige Gäste einst hervorgegangen waren. Und Meggie hatte begriffen, dass es wohl doch keine Rückkehr vom Tod gab, auch nicht für Geschöpfe, die nur aus Worten erschaffen worden waren.
Elinor jedoch hatte sich mit diesem Gedanken nicht abfinden können. Trotzig und voll Verzweiflung war sie noch einmal zurück in Capricorns Dorf gefahren - um dort leere Gassen vorzufinden, niedergebrannte Häuser und nicht ein einziges atmendes Wesen. »Weißt du, Elinor«, hatte Mo gesagt, als sie mit verweintem Gesicht zurückkam, »ich hatte so etwas befürchtet. Ich konnte nie so recht glauben, dass es Worte gibt, die Tote zurückholen. Und außerdem - wenn du ehrlich bist -, sie passten nicht in diese Welt.«
»Das tue ich auch nicht!«, hatte Elinor darauf nur erwidert.
In den Wochen danach hatte Meggie so manches Mal, wenn sie abends noch einmal in die Bibliothek schlich, um sich ein Buch zu holen, ein Schluchzen aus Elinors Zimmer gehört. Viele Monate waren seither verstrichen, fast ein Jahr schon lebten sie nun alle zusammen in dem großen Haus, und Meggie hatte das Gefühl, dass es Elinor gefiel, nicht länger allein mit ihren Büchern zu leben. Sie hatte ihnen die schönsten Zimmer überlassen. (Elinors Sammlung alter Schulbücher und ein paar Dichter, die bei ihr in Ungnade gefallen waren, hatten dafür auf dem Dachboden Quartier beziehen müssen.) Von Meggies Fenster aus blickte man auf schneegesäumte Berge, und vom Schlafzimmer ihrer Eltern sah man den See, dessen schimmerndes Wasser die Feen so oft dazu verlockt hatte hinunterzuflattern.
Noch nie war Mo so einfach fortgefahren. Ohne ein Wort des Abschieds. Ohne Versöhnung.
Vielleicht sollte ich nach unten gehen und Darius in der Bibliothek helfen!, dachte Meggie, während sie dasaß und sich die Tränen vom Gesicht wischte. Sie weinte nie, während sie mit Mo stritt, die Tränen kamen immer erst später. Und wenn er ihre verweinten Augen zu Gesicht bekam, blickte er jedes Mal furchtbar schuldbewusst drein.
Bestimmt hatten wieder alle gehört, dass sie sich gestritten hatten! Darius hatte vermutlich schon die Honigmilch aufgesetzt, und Elinor würde zu schimpfen beginnen, sobald sie den Kopf durch die Küchentür steckte, auf Mo und die Männer im Allgemeinen. Nein, besser, sie blieb in ihrem Zimmer.
Ach, Mo. Er hatte ihr das Notizbuch, in dem sie las, aus der Hand gerissen und es mitgenommen. Ausgerechnet das Buch, in dem sie Ideen für eigene Geschichten gesammelt hatte, Anfänge, aus denen nie mehr geworden war, erste Wörter, durchgestrichene Sätze, all ihre vergeblichen Versuche. Wie konnte er es ihr einfach wegnehmen? Sie wollte nicht, dass Mo darin las, dass er sah, wie vergeblich sie versuchte, die Wörter aneinander zu fügen, die ihr beim Lesen so leicht und machtvoll über die Zunge kamen. Ja, Meggie konnte aufschreiben, was ihre Mutter berichtete, sie konnte Seiten um Seiten mit dem füllen, was Resa ihr beschrieb. Doch sobald sie versuchte, daraus etwas Neues zu spinnen, eine Geschichte, die ihr eigenes Leben hatte, fiel ihr einfach nichts ein. Die Wörter schienen aus ihrem Kopf zu verschwinden - wie Schneeflocken, von denen nichts bleibt als ein feuchter Fleck auf der Haut, sobald man die Hand nach ihnen ausstreckt.
Jemand klopfte an Meggies Tür.
»Herein!«, schniefte sie und suchte in ihren Hosentaschen nach einem der altmodischen Taschentücher, die Elinor ihr geschenkt hatte. (»Sie haben meiner Schwester gehört. Ihr Name begann mit einem M wie deiner. Es ist unten in die Ecke gestickt, siehst du? Ich dachte, besser, du hast sie, als dass die Motten sie fressen.«)
Ihre Mutter steckte den Kopf durch die Tür.
Meggie versuchte ein Lächeln, aber es misslang kläglich.
»Kann ich reinkommen?« Resas Finger malten die Wörter schneller in die Luft, als Darius sie über die Lippen brachte, und Meggie nickte. Sie beherrschte die Zeichensprache ihrer Mutter inzwischen fast ebenso selbstverständlich wie die Buchstaben des Alphabets - besser als Mo und Darius und viel besser als Elinor, die oft, wenn Resas Finger ihr zu schnell sprachen, verzweifelt nach Meggie rief.
Resa schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu ihr auf das Fensterbrett. Meggie nannte ihre Mutter stets beim Vor-namen, vielleicht, weil sie zehn Jahre lang keine Mutter gehabt hatte, vielleicht aber auch aus demselben unerfindlichen Grund, aus dem ihr Vater für sie immer nur Mo gewesen war.
Meggie erkannte das Notizbuch sofort, das Resa ihr in den Schoß legte. Es war dasselbe, das Mo ihr fortgenommen hatte. »Es lag vor deiner Tür«, sagten die Hände ihrer Mutter.
Meggie strich über den gemusterten Einband. Mo hatte es also zurückgebracht. Warum war er nicht hereingekommen? Weil er noch zu wütend gewesen war oder weil es ihm Leid getan hatte?
»Er will, dass ich die Notizbücher auf den Dachboden bringe. Wenigstens für eine Weile.« Meggie fühlte sich plötzlich so klein. Und gleichzeitig so alt. »>Vielleicht sollte ich mich in einen Glasmann verwandeln< hat er gesagt, >oder mir die Haut blau färben, denn meine Tochter und meine Frau sehnen sich ja offenbar mehr nach Feen und Glasmännern als nach mir.<«
Resa lächelte und strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nase.
»Ja, ich weiß, natürlich glaubt er das nicht wirklich! Aber er wird jedes Mal so wütend, wenn er mich mit den Notizbüchern sieht. «
Resa blickte durch das offene Fenster in den Garten hinaus. Elinors Garten war so groß, dass man keinen Anfang und kein Ende sah, nur hohe Bäume und Rhododendronbüsche, die so alt waren, dass sie Elinors Haus wie ein immergrüner Wald umstanden. Direkt unter Meggies Fenster lag ein Stück Rasen, begrenzt von einem schmalen Kiesweg. Am Rand stand eine Bank. Meggie erinnerte sich noch gut an die Nacht, in der sie darauf gesessen und Staubfinger beim Feuerspucken zugesehen hatte.