Den Rasen hatte Elinors ständig mürrischer Gärtner erst am Nachmittag von welkem Laub befreit. In der Mitte sah man immer noch die kahle Stelle, an der Capricorns Männer Eli-nors schönste Bücher verbrannt hatten. Der Gärtner versuchte immer wieder, Elinor zu überreden, die Stelle zu bepflanzen oder neuen Rasen zu säen, doch Elinor schüttelte jedes Mal nur energisch den Kopf. »Seit wann sät man Rasen auf ein Grab?«, hatte sie ihn angefahren, als er das letzte Mal gefragt hatte, und ihn angewiesen, auch die Schafgarbe stehen zu lassen, die seit dem Feuer so üppig am Rand der schwarz gebrannten Erde spross, als wollte sie mit ihren flachen Schirmblüten an die Nacht erinnern, in der Elinors gedruckte Kinder von den Flammen verschlungen worden waren.
Die Sonne ging hinter den nahen Bergen unter, so rot, als wollte auch sie an das längst verloschene Feuer erinnern, und ein kühler Wind strich von draußen herein, der Resa schaudern ließ.
Meggie schloss das Fenster. Der Wind trieb ein paar welke Rosenblätter gegen die Scheibe. Blassgelb und durchscheinend blieben sie an dem Glas kleben. »Ich will doch gar nicht mit ihm streiten«, flüsterte sie, »ich hab mich früher nie mit Mo gestritten, na ja, fast nie.«
»Vielleicht hat er ja Recht.« Ihre Mutter strich sich das Haar zurück. Es war ebenso lang wie das von Meggie, aber dunkler, als wäre ein Schatten darauf gefallen. Meist steckte Resa es mit einer Spange zusammen. Auch Meggie trug ihr Haar inzwischen oft auf diese Weise, und manchmal, wenn sie sich in dem Spiegel an ihrem Schrank betrachtete, schien es, als blickte ihr nicht sie selbst, sondern ein jüngeres Abbild ihrer Mutter entgegen. »Ein Jahr noch, dann wächst sie dir über den Kopf«, sagte Mo manchmal, wenn er Resa ärgern wollte, und Darius mit seinen kurzsichtigen Augen war es schon so manches Mal passiert, dass er Meggie mit ihrer Mutter verwechselte.
Resa fuhr mit dem Zeigefinger über die Fensterscheibe, als zeichnete sie die Rosenblätter nach, die daran klebten. Dann begannen ihre Hände wieder zu sprechen, zögernd, wie auch Lippen es manchmal tun: »Ich verstehe deinen Vater, Meg-gie«, sagten sie, »manchmal denke ich auch, dass wir zwei zu oft über diese andere Welt reden. Ich verstehe selbst nicht, warum ich immer wieder davon anfange. Und ständig erzähle ich dir von dem, was schön war, statt von den anderen Dingen: dem Eingesperrtsein, Mortolas Strafen, wie mir die Knie und Hände schmerzten von der Arbeit, so sehr, dass ich nicht schlafen konnte. all die Grausamkeiten, die ich dort gesehen habe. Hab ich dir je von der Magd erzählt, die vor Angst starb, weil ein Nachtmahr sich in unsere Kammer gestohlen hatte?«
»Ja, hast du!« Meggie rückte ganz dicht an ihre Seite, aber die Hände ihrer Mutter schwiegen. Sie waren immer noch rau von all den Jahren, in denen sie eine Magd gewesen war, erst Mortolas und dann Capricorns Magd. »Du hast mir alles erzählt«, sagte Meggie, »auch die schlimmen Sachen, aber Mo will das nicht glauben!«
»Weil er spürt, dass wir trotzdem immer nur von dem Wunderbaren träumen. Als ob ich davon viel gehabt hätte.« Resa schüttelte den Kopf. Wieder schwiegen ihre Finger eine ganze Weile, bevor sie sie weitersprechen ließ. »Ich musste mir die Zeit zusammenstehlen, Sekunden, Minuten, manchmal eine ganze kostbare Stunde, wenn wir hinaus in den Wald durften, um für Mortola Pflanzen zu sammeln, die sie für ihre schwarzen Tränke brauchte.«
»Aber da waren auch die Jahre, in denen du frei warst! Die Jahre, in denen du dich verkleidet und als Schreiber auf den Märkten gearbeitet hast.« Verkleidet als Mann. Meggie hatte sich nichts öfter ausgemalt als dieses Bild: ihre Mutter, das Haar kurz, im dunklen Kittel eines Schreibers, an den Fingern Tinte und die schönste Handschrift, die sich in der Tintenwelt finden ließ. So hatte Resa es ihr erzählt. So hatte sie sich ihr Brot verdient, in einer Welt, die Frauen das nicht leicht machte. Meggie hätte die Geschichte gleich noch einmal hören mögen, auch wenn sie ein trauriges Ende hatte, denn danach hatten die schlimmen Jahre begonnen. Doch waren nicht auch in denen wunderbare Dinge geschehen? Wie das große Fest auf der Burg des Speckfürsten, zu dem Mortola auch ihre Mägde mitgenommen hatte, das Fest, auf dem Resa den Speckfürsten gesehen hatte, den Schwarzen Prinzen und seinen Bären und den Gaukler auf dem Seil, Wolkentänzer.
Resa jedoch war nicht gekommen, um all das erneut zu erzählen. Sie schwieg. Und als ihre Finger doch wieder sprachen, taten sie es langsamer als sonst. »Vergiss die Tintenwelt, Meggie«, sagten sie. »Lass sie uns zusammen vergessen, wenigstens für eine Weile. Für deinen Vater. und für dich selbst. Sonst bist du irgendwann blind für die Schönheit, die dich hier umgibt.« Und wieder blickte sie nach draußen, in die aufziehende Dämmerung. »Ich habe dir eh alles erzählt«, sagten ihre Hände. »Alles, wonach du gefragt hast.«
Ja, das hatte sie. Und Meggie hatte ihr viele Fragen gestellt, tausend und noch mal tausend: Hast du jemals einen der Riesen gesehen? Welche Kleider hast du getragen? Wie sah die Festung im Wald aus, auf die Mortola dich gebracht hat, und dieser Fürst, von dem du redest, der Speckfürst, war seine Burg groß und prächtig wie die Nachtburg? Erzähl mir von seinem Sohn, von Cosimo dem Schönen, und vom Natternkopf und seinen Gepanzerten. War in seiner Burg wirklich alles aus Silber? Wie groß ist der Bär, den der Schwarze Prinz immer bei sich hat, und was ist mit den Bäumen, können sie wirklich sprechen? Was ist mit der alten Frau, die alle die Nessel nennen? Kann sie tatsächlich fliegen?
Resa hatte all die Fragen beantwortet, so gut sie es vermochte, aber selbst aus tausend Antworten fügen sich nicht zehn Jahre zusammen, und einige Fragen hatte Meggie nie gestellt. Nach Staubfinger zum Beispiel hatte sie nie gefragt. Aber Resa hatte trotzdem von ihm erzählt: dass jeder in der Tintenwelt seinen Namen kannte, auch noch viele Jahre, nachdem er verschwunden war, dass man ihn den Feuertänzer nannte und Resa ihn deshalb sofort erkannt hatte, als sie ihm in dieser Welt zum ersten Mal begegnet war.
Es gab noch eine Frage, die Meggie nicht stellte, obwohl sie ihr oft durch den Kopf ging, denn Resa hätte sie nicht beantworten können: Wie ging es Fenoglio, dem Verfasser des Buches, das erst ihre Mutter und schließlich sogar seinen Schöpfer zwischen seine Seiten gesogen hatte?
Mehr als ein Jahr war nun schon vergangen, seit Meggies Stimme Fenoglio mit seinen eigenen Worten umsponnen hatte - bis er zwischen ihnen verschwunden war, als hätten sie ihn verdaut. Manchmal sah Meggie sein faltiges Gesicht im Traum, aber sie wusste nie, ob es glücklich oder traurig dreinblickte. Allerdings war das bei Fenoglios Schildkrötengesicht nie leicht festzustellen gewesen. Eines Nachts, als sie aus einem dieser Träume hochgeschreckt war und nicht wieder hatte einschlafen können, hatte sie angefangen, eine Geschichte zu Papier zu bringen, in der Fenoglio versuchte, sich wieder nach Hause zu schreiben zu seinen Enkeln und in das Dorf, in dem Meggie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Aber sie war nicht über die ersten drei Sätze hinausgekommen, wie bei all den anderen Geschichten, die sie begonnen hatte.
Meggie blätterte in dem Notizbuch, das Mo ihr fortgenommen hatte - und klappte es wieder zu.
Resa legte ihr die Hand unters Kinn und sah ihr ins Gesicht.
»Sei ihm nicht böse.«
»Ich bin ihm nie lange böse! Und das weiß er. Wie lange wird er fort sein?«
»Zehn Tage, vielleicht länger.«
Zehn Tage! Meggie blickte zu dem Regal neben ihrem Bett. Dort standen sie, säuberlich aufgereiht: die Bösen Bücher, wie sie sie inzwischen insgeheim getauft hatte, gefüllt mit Resas Geschichten, mit Glasmännern und Nixen, Feuerelfen, Nachtmahren, Weißen Frauen und all den anderen seltsamen Wesen, die ihre Mutter ihr geschildert hatte.
»Na gut. Ich werd ihn anrufen. Ich werd ihm sagen, dass er eine Kiste für sie bauen soll, wenn er wieder da ist. Aber den Schlüssel behalte ich.«