Выбрать главу

Resa gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann strich sie behutsam mit der flachen Hand über das Notizbuch in Meggies Schoß. »Gibt es irgendjemanden, der schönere Bücher bindet als dein Vater?«, fragten ihre Finger.

Mit einem Lächeln schüttelte Meggie den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Nicht in dieser und in keiner anderen Welt.«

Als Resa wieder hinunterging, um Darius und Elinor mit dem Abendessen zu helfen, blieb Meggie noch am Fenster sitzen, um zuzusehen, wie Elinors Garten sich mit Schatten füllte. Als ein Eichhörnchen, den buschigen Schweif gestreckt, über den Rasen huschte, musste sie an Gwin denken, Staubfängers zahmen Marder. Wie seltsam, dass sie die Sehnsucht, die sie so oft auf dem narbigen Gesicht seines Herrn gesehen hatte, inzwischen verstand.

Ja, vermutlich hatte Mo wirklich Recht. Sie dachte zu viel an Staubfingers Welt, viel zu viel. Hatte sie sich nicht sogar schon ein paar Mal eine von Resas Geschichten laut vorgelesen, obwohl sie wusste, auf welch gefährliche Weise sich ihre Stimme mit den Buchstaben zusammentun konnte? Hatte sie nicht - wenn sie ganz ehrlich war, so ehrlich, wie man es selten ist - insgeheim die Hoffnung gehegt, die Wörter würden sie hinüberschlüpfen lassen? Was hätte Mo getan, hätte er von diesen Versuchen erfahren? Hätte er die Notizbücher im Garten vergraben oder in den See geworfen, wie er es ab und zu den streunenden Katzen androhte, die sich in seine Werkstatt schlichen?

Ja. Ich werd sie wegschließen!, dachte Meggie, während draußen die ersten Sterne erschienen. Sobald Mo eine neue Kiste für sie gebaut hat. Die Kiste, die Mo für ihre Lieblingsbücher gezimmert hatte, war inzwischen bis an den Rand gefüllt. Sie war rot, rot wie Klatschmohn, Mo hatte den Anstrich gerade erst ausgebessert. Die Kiste für die Notizbücher musste eine andere Farbe bekommen, am besten grün wie der Weglose Wald, den Resa ihr so oft beschrieben hatte. Trugen nicht auch die Wächter vor der Speckburg grüne Umhänge?

Eine Motte schwirrte gegen das Fenster und erinnerte Meggie an die blauhäutigen Feen und an die schönste Geschichte, die Resa ihr über Feen erzählt hatte: wie sie Staubfingers Gesicht geheilt hatten, nachdem Basta es ihm zerschnitten hatte, zum Dank dafür, dass er ihre Schwestern so oft aus den Drahtkäfigen befreit hatte, in die die Händler sie sperrten, um sie auf den Märkten als Glücksbringer zu verkaufen. Tief in den Weglosen Wald war er dafür. Schluss!

Meggie lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe.

Schluss.

Ich werd sie alle in Mos Arbeitszimmer bringen, dachte sie, jetzt sofort. Und wenn er zurück ist, werd ich ihn bitten, mir ein neues Notizbuch zu binden, für Geschichten über diese Welt. Ein paar hatte sie ja schon begonnen: über Elinors Garten und ihre Bibliothek, über die Burg unten am See. Räuber hatten dort einst gehaust, Elinor hatte ihr von ihnen erzählt, auf die Art, wie sie immer Geschichten erzählte, gespickt mit so blutigen Einzelheiten, dass Darius darüber das Büchersortieren vergaß und seine Augen sich hinter den dicken Brillengläsern weiteten vor Entsetzen.

»Meggie, Abendbrot!«

Elinors Stimme hallte durch das Treppenhaus. Sie hatte eine sehr kräftige Stimme. Lauter als das Nebelhorn der Titanic, sagte Mo immer.

Meggie rutschte von der Fensterbank. »Ich komm gleich!«, rief sie den Flur hinunter.

Dann lief sie zurück in ihr Zimmer, zog die Notizbücher aus dem Regal, eins nach dem anderen, bis ihre Arme den Stapel kaum noch halten konnten, und balancierte sie über den Flur hinüber in das Zimmer, das Mo als Büro benutzte. Ursprünglich war es mal Meggies Schlafzimmer gewesen, sie hatte darin übernachtet, als sie mit Mo und Staubfinger bei Elinor abgestiegen war, doch von seinem Fenster aus hatte man nur einen Blick auf den kiesbestreuten Vorplatz des Hauses, auf Tannen, eine große Kastanie und Elinors grauen Kombi, der bei jedem Wetter dort stand, weil Elinor der Ansicht war, dass Autos, die man mit Garagen verwöhnte, nur umso schneller rosteten. Meggie aber hatte sich, als sie sich entschlossen, endgültig bei Elinor einzuziehen, ein Fenster gewünscht, durch das man in den Garten sehen konnte. Und so erledigte nun Mo, umgeben von Elinors Sammlung alter Reiseführer, seinen Papierkram dort, wo Meggie einst geschlafen hatte, damals, als sie noch nicht in Capricorns Dorf gewesen war, als sie noch keine Mutter gehabt, als sie fast nie mit Mo gestritten hatte.

»Meggie, wo bleibst du denn?« Elinors Stimme klang ungeduldig. In letzter Zeit taten ihr oft die Glieder weh, aber sie wollte nicht zum Arzt gehen. (»Was soll ich denn da?«, war ihr einziger Kommentar. »Haben sie etwa eine Pille gegen das Alter erfunden?«)

»Bin gleich unten!«, rief Meggie, während sie die Notizbücher vorsichtig auf Mos Schreibtisch schob. Zwei Bücher rutschten von dem Stapel herunter und stießen fast die Vase mit den Herbstblumen um, die ihre Mutter vors Fenster gestellt hatte. Meggie fing sie noch gerade auf, bevor das Wasser sich auf Rechnungen und Benzinbelege ergoss. So stand sie da, die Vase noch in der Hand, die Finger klebrig vom herabrieselnden Blütenstaub, als sie die Gestalt zwischen den Bäumen sah, dort, wo der Weg von der Straße heraufkam. Ihr Herz begann so heftig zu klopfen, dass ihr die Vase erneut fast aus den Fingern rutschte.

Nun war es bewiesen: Mo hatte Recht. »Meggie, nimm den Kopf aus diesen Büchern, oder du wirst bald nicht mehr unterscheiden können zwischen dem, was du dir vorstellst, und der Wirklichkeit!« Wie oft hatte er das zu ihr gesagt, und jetzt geschah es. Hatte sie nicht eben noch an Staubfinger gedacht -und nun sah sie jemanden draußen in der Nacht stehen, genau wie damals, als er vor ihrem Haus gewartet hatte, reglos wie die Gestalt da draußen.

»Meggie, verdammt noch eins, wie oft soll ich denn noch rufen?« Elinor schnaufte von den vielen Stufen. »Was stehst du denn da herum wie angewurzelt? Hast du mich nicht - zum Teufel, wer ist das denn?«

»Du siehst ihn auch?« Meggie war so erleichtert, dass sie Elinor fast um den Hals gefallen wäre.

»Natürlich.«

Die Gestalt regte sich. Hastig lief sie über den hellen Kies. Sie trug keine Schuhe.

»Das ist doch dieser Junge!« Elinors Stimme klang ungläubig. »Der, der dem Streichholzfresser geholfen hat, deinem Vater das Buch zu stehlen. Na, der hat Nerven, hier aufzutauchen. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. Glaubt er etwa, ich lass ihn herein? Womöglich ist der Streichholzfresser auch da.«

Mit besorgtem Gesicht trat Elinor näher ans Fenster, aber Meggie war schon aus der Tür. Sie sprang die Treppen hinunter und rannte durch die Eingangshalle. Ihre Mutter kam den Flur herunter, der zur Küche führte.

»Resa!«, rief Meggie ihr zu. »Farid ist hier. Farid!«

Farid

»Er war starrköpfig wie ein Maulesel, schlau wie ein Affe und flink wie ein Hase.«

Louis Pergaud, Der Krieg der Knöpfe

Resa nahm Farid mit in die Küche und verarztete erst einmal seine Füße. Sie sahen furchtbar aus, zerschnitten und blutig. Während Resa sie säuberte und mit Pflastern bedeckte, begann Farid zu erzählen, die Zunge schwer vor Erschöpfung.

Meggie gab sich alle Mühe, ihn nicht allzu oft anzustarren. Er war immer noch etwas größer als sie - obwohl sie sehr gewachsen war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. in der Nacht, in der er sich mit Staubfinger davongemacht hatte, mit Staubfinger und dem Buch. Sie hatte sein Gesicht ebenso wenig vergessen wie den Tag, an dem Mo ihn aus seiner Geschichte gelesen hatte. Tausendundeine Nacht. Sie kannte keinen anderen Jungen, der so schöne Augen hatte, fast wie die eines Mädchens und ebenso schwarz wie sein Haar, das er kürzer trug als damals; es ließ ihn erwachsener aussehen. Farid. Meggie spürte, wie ihre Zunge seinen Namen kostete - und wandte schnell den Blick ab, als er den Kopf hob und sie ansah.