Er saß noch lange so da, in der Küche seines ärgsten Feindes, und sah der Fee dabei zu, wie sie durch den Raum schwirrte, alles untersuchte (Feen sind neugierig, diese machte offenbar keine Ausnahme) und immer wieder von der Milch naschte, bis er ihr die Schale ein zweites Mal füllte. Ein paar Mal näherten sich Schritte, doch sie gingen jedes Mal vorbei. Wie gut, dass Basta keine Freunde hatte. Die Luft, die durch das Fenster hereindrang, war schwül und machte ihn schläfrig, und der schmale Streifen Himmel über den Häusern würde noch viele Stunden hell bleiben. Genug Zeit, um darüber nachzudenken, ob er zu Capricorns Fest gehen sollte oder nicht.
Warum sollte er hingehen? Das Buch konnte er sich später holen, irgendwann, wenn die Aufregung im Dorf vergessen war und alles wieder seinen alltäglichen Gang ging. Und was war mit Resa? Was sollte schon mit ihr sein? Der Schatten würde sie holen. Daran war nichts zu ändern. Niemand konnte daran etwas ändern, auch Zauberzunge nicht, falls er wirklich so verrückt sein sollte, es zu versuchen. Aber er wusste ja gar nichts von ihr, und um seine Tochter musste man sich keine Sorgen machen. Schließlich war sie nun Capricorns liebstes Spielzeug. Er würde nicht zulassen, dass der Schatten ihr etwas zuleide tat.
Nein, ich werde nicht hingehen, dachte Staubfinger, wozu? Ich kann ihnen nicht helfen. Ich werde mich hier eine Weile verstecken. Morgen gibt es keinen Basta mehr, das ist doch schon etwas wert. Vielleicht verschwinde ich dann auch, für immer, fort von hier ... Nein. Er wusste, dass er das nicht tun würde. Nicht, solange das Buch hier war.
Die Fee war ans Fenster geflogen. Neugierig lugte sie hinaus auf die Gasse.
»Vergiss es. Bleib hier!«, sagte Staubfinger. »Das da draußen ist nichts für dich, glaub mir.«
Fragend sah sie ihn an. Dann legte sie die Flügel zusammen und kniete sich auf das Fensterbrett. Und dort blieb sie, als könnte sie sich nicht entscheiden zwischen dem stickigen Zimmer und der fremden Freiheit da draußen.
Die richtigen Sätze
Das war das Fürchterliche: dass aus diesem Schlamm der tiefsten Tiefen Stimmen und Schreie zu kommen schienen, dass der formlose Staub sich bewegte und sündigte, dass, was tot war und keine Gestalt besaß, sich die Äußerungen des Lebens anmaßte.
Robert L. Stevenson, Der seltsame Fall von Dr. Jekyll & Mr Hyde
Fenoglio schrieb und schrieb, doch die Blätter, die er unter der Matratze versteckt hatte, wurden nicht zahlreicher. Immer wieder holte er sie hervor, strich an ihnen herum, zerriss eins und legte ein anderes dazu. »Nein, nein, nein!«, hörte Meggie ihn leise schimpfen. »Das ist es noch nicht, nein.«
»In ein paar Stunden wird es schon dunkel!«, sagte sie irgendwann besorgt. »Was, wenn du nicht fertig wirst?«
»Ich bin ja fertig!«, fuhr er sie gereizt an. »Ich bin schon ein Dutzend Mal fertig gewesen, aber ich bin nicht zufrieden.« Er senkte die Stimme zu einem Wispern, bevor er weitersprach: »Da gibt es so viele Fragen: Was, wenn der Schatten auf dich oder mich oder die Gefangenen losgeht, nachdem er Capricorn getötet hat? Und -gibt es wirklich nur die Lösung, Capricorn töten zu lassen? Was soll danach mit seinen Männern geschehen? Was mach ich mit denen?«
»Na, was schon? Der Schatten muss sie alle töten!«, flüsterte Meggie zurück. »Wie sollen wir sonst jemals wieder nach Hause kommen oder meine Mutter retten?«
Fenoglio gefiel diese Antwort nicht. »Himmel, was bist du doch für ein herzloses Ding!«, flüsterte er. »Sie alle töten! Hast du gesehen, wie jung einige von ihnen sind?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin schließlich kein Massenmörder, ich bin Schriftsteller! Da wird mir doch wohl eine unblutigere Lösung einfallen.«
Und wieder begann er zu schreiben ... und durchzustreichen ... und wieder zu schreiben, während draußen die Sonne immer tiefer sank, bis ihre Strahlen die Kuppen der Hügel mit einem Saum aus Gold versahen.
Jedes Mal, wenn sich draußen auf dem Flur Schritte näherten, versteckte Fenoglio, was er geschrieben hatte, unter seiner Matratze, doch niemand kam, um nachzusehen, was der alte Mann da so pausenlos auf weiße Blätter kritzelte. Denn Basta saß in der Gruft.
Die Posten, die vor ihrer Tür gelangweilt Wache standen, bekamen an diesem Nachmittag oft Besuch. Offenbar waren auch die Männer von Capricorns Außenposten ins Dorf gekommen, um die Hinrichtung zu sehen. Meggie drückte ihr Ohr an die Tür und belauschte ihre Gespräche: Sie lachten viel und ihre Stimmen klangen aufgeregt. Alle freuten sich auf das, was sie erwartete. Nicht einer schien Mitleid für Basta zu empfinden, im Gegenteil, es schien den Reiz nur zu erhöhen, dass Capricorns ehemaliger Liebling in dieser Nacht sterben sollte. Von ihr selbst sprachen sie natürlich auch. Die kleine Hexe nannten sie sie, das Zauberbalg, und nicht alle schienen von ihren Fähigkeiten überzeugt zu sein.
Was Bastas Henker betraf, so erfuhr Meggie nicht mehr als das, was Fenoglio ihr ohnehin schon erzählt hatte und was ihr von dem, was die Elster sie hatte lesen lassen, im Gedächtnis geblieben war. Viel war das nicht, doch sie hörte die Angst in den Stimmen vor der Tür und das ehrfürchtige Grauen, das alle bei der Erwähnung seines namenlosen Namens überkam. Nicht alle kannten den Schatten, nur die, die wie Capricorn aus Fenoglios Buch stammten, doch gehört hatten sie offenbar alle schon von ihm -und sie malten sich in den schwärzesten Farben aus, wie er sich über die Gefangenen hermachen würde. Wie genau er seine Opfer tötete, darüber gab es offenbar verschiedene Meinungen, aber die Vermutungen, die sie belauschte, wurden schrecklicher und schrecklicher, je näher der Abend rückte, bis Meggie nicht mehr ertrug, was sie hörte, sich ans Fenster setzte und die Hände auf die Ohren presste.
Es war sechs Uhr - die Kirchturmglocke begann gerade zu schlagen -, als Fenoglio plötzlich den Stift hinlegte und mit zufriedenem Gesicht musterte, was er zu Papier gebracht hatte. »Ich hab es!«, flüsterte er. »Ja, das ist es. So wird es gehen. So wird es ganz wunderbar.« Voll Ungeduld winkte er Meggie zu sich und schob ihr das Blatt hin.
»Lies!«, flüsterte er mit einem nervösen Blick zur Tür. Flachnase prahlte draußen gerade damit, wie sie einem Bauern die Olivenölvorräte vergiftet hatten.
»Das ist alles?« Meggie betrachtete ungläubig das eine beschriebene Blatt.
»Ja, sicher! Du wirst sehen, mehr ist nicht nötig. Es müssen eben nur die richtigen Sätze sein. Nun lies schon endlich!«
Meggie gehorchte.
Die Männer draußen lachten und es fiel ihr schwer, sich auf Fenoglios Worte zu konzentrieren. Schließlich gelang es ihr. Doch kaum hatte sie den ersten Satz beendet, wurde es draußen schlagartig still und die Stimme der Elster schallte über den Flur: »Was ist das hier, ein Kaffeekränzchen?«
Fenoglio griff hastig nach dem wertvollen Blatt und schob es unter die Matratze. Er zupfte gerade das Betttuch wieder zurecht, als die Elster die Tür aufstieß. »Dein Abendessen«, sagte sie zu Meggie und stellte einen dampfenden Teller auf den Tisch.
»Was ist mit mir?«, fragte Fenoglio mit betont heiterer Stimme. Die Matratze war etwas verrutscht, als er das Papier darunter versteckt hatte, und er lehnte sich gegen sein Bett, damit Mortola es nicht sah, doch zum Glück hatte sie keinen Blick für ihn übrig. Sie hielt ihn für einen Lügner, nichts weiter, da war Meggie sicher, und vermutlich ärgerte es sie, dass Capricorn in diesem Punkt nicht ihrer Meinung war.