»Du isst alles auf!«, befahl sie Meggie. »Und dann ziehst du dich um. Deine Sachen sind abscheulich, und außerdem starren sie vor Dreck.« Sie winkte der Magd, die mit ihr gekommen war. Es war ein junges Ding, höchstens vier, fünf Jahre älter als Meggie. Die Gerüchte über Meggies angebliche Hexenkräfte waren offenbar auch zu ihr vorgedrungen. Über ihrem Arm hing ein schneeweißes Kleid, und sie vermied es, Meggie anzusehen, als sie sich an ihr vorbeischob, um es an den Schrank zu hängen.
»Ich will das Kleid nicht!«, fuhr Meggie die Elster an. »Ich will den hier anziehen.« Sie zog Mos Pullover von ihrem Bett, doch Mortola riss ihn ihr aus den Händen.
»Unsinn. Soll Capricorn denken, wir hätten dich in einen Sack gesteckt? Er hat dir dieses Kleid ausgesucht und du ziehst es an. Entweder du tust es selbst oder wir stecken dich hinein. Sobald es dunkel wird, hole ich dich ab. Wasch dich und kämm dir die Haare, du siehst aus wie eine streunende Katze.«
Die Magd drückte sich erneut mit so besorgtem Gesicht an Meggie vorbei, als könnte sie sich an ihr verbrennen. Die Elster schob sie ungeduldig auf den Flur hinaus und folgte ihr. »Schließ hinter mir ab!«, fuhr sie Flachnase an. »Und schick deine Freunde weg. Du sollst Wache halten.«
Flachnase schlenderte mit gelangweilter Miene auf die Tür zu. Meggie sah, wie er der Elster hinter ihrem Rücken eine Fratze schnitt, bevor er die Zimmertür zuzog.
Sie trat auf das Kleid zu und strich über den weißen Stoff. »Weiß!«, murmelte sie. »Ich mag keine weißen Sachen. Der Tod hat weiße Hunde. Mo hat mir eine Geschichte über sie erzählt.«
»O ja, die weißen, rotäugigen Hunde des Todes.« Fenoglio trat hinter sie. »Gespenster sind auch weiß und den Blutdurst der alten Götter haben sie nur mit weißen Tieren gestillt, als ob die Unschuld Göttern besser schmeckt. O nein. Nein!«, fügte er rasch hinzu, als er Meggies erschrockenen Blick sah. »Nein. Glaub mir, an so etwas hat Capricorn bestimmt nicht gedacht, als er dir das Kleid schickte. Woher soll er solche Geschichten kennen? Weiß ist auch die Farbe des Anfangs und des Endes, und wir beide« - er senkte die Stimme - »du und ich, wir werden dafür sorgen, dass es Capricorns Ende wird und nicht unseres.« Sachte zog er Meggie zum Tisch und drückte sie auf den Stuhl. Der Geruch von gebratenem Fleisch zog ihr in die Nase.
»Was ist das für ein Fleisch?«, fragte sie.
»Sieht nach Kalb aus. Wieso?«
Meggie schob den Teller weg. »Ich hab keinen Hunger«, murmelte sie.
Fenoglio musterte sie voll Mitgefühl. »Weißt du, Meggie«, sagte er, »ich glaube, ich sollte als Nächstes eine Geschichte über dich schreiben: wie du uns alle rettest, nur mit deiner Stimme. Das würde sicherlich sehr spannend werden ...«
»Aber geht es auch gut aus?« Meggie sah zum Fenster. Nur ein, höchstens zwei Stunden noch, dann würde es dunkel sein. Was, wenn Mo auch zu dem Fest kam? Was, wenn er noch einmal versuchte, sie zu befreien? Er wusste doch nicht, was sie und Fenoglio vorhatten. Was, wenn sie wieder auf ihn schössen? Was, wenn sie ihn in der letzten Nacht doch getroffen hatten ... Meggie legte die Arme auf den Tisch und verbarg ihr Gesicht darin.
Sie spürte, wie Fenoglio ihr übers Haar strich. »Alles wird gut, Meggie!«, raunte er ihr zu. »Glaub mir, meine Geschichten gehen immer gut aus. Wenn ich es will.«
»Das Kleid hat ganz enge Ärmel!«, wisperte sie. »Wie soll ich das Blatt da herausbekommen, ohne dass die Elster es merkt?«
»Ich werde sie ablenken. Verlass dich darauf.«
»Und die anderen? Sie werden es alle sehen, wenn ich das Blatt herausziehe.«
»Unsinn. Du machst das schon.« Fenoglio legte ihr die Hand unters Kinn. »Alles wird gut, Meggie!«, sagte er noch einmal, während er ihr mit dem Zeigefinger eine Träne von der Wange wischte. »Du bist nicht allein, auch wenn es dir nachher vielleicht so vorkommen wird. Ich bin da und Staubfinger ist irgendwo da draußen. Glaub mir, ich kenne ihn wie mich selbst, er wird kommen, und wenn es nur ist, um das Buch zu sehen, um es vielleicht zurückzubekommen ... und dann ist da ja auch noch dein Vater -und dieser Junge, der dich so liebeskrank angesehen hat, damals auf dem Platz vor dem Denkmal, als ich Staubfinger getroffen habe.«
»Lass das!« Meggie stieß ihm den Ellbogen in den Bauch, aber sie musste lachen, obwohl die Tränen immer noch alles verschwimmen ließen, den Tisch, ihre Hände und Fenoglios faltiges Gesicht. Es kam ihr vor, als hätte sie in den letzten Wochen die Tränen für ein ganzes Leben aufgebraucht.
»Wieso? Er ist ein hübscher Junge. Ich würde bei deinem Vater auf der Stelle ein gutes Wort für ihn einlegen.«
»Du sollst aufhören!«
»Nur, wenn du etwas isst.« Fenoglio schob ihr den Teller wieder hin. »Und diese Freundin von euch, wie hieß sie noch ...«
»Elinor.« Meggie schob sich eine Olive in den Mund und biss hinein, bis sie den Kern zwischen den Zähnen spürte.
»Genau. Vielleicht steckt sie ja auch da draußen, zusammen mit deinem Vater. Herrgott, wenn ich es mir überlege, sind wir fast in der Überzahl.«
Meggie verschluckte sich fast an dem Olivenkern. Fenoglio lächelte selbstzufrieden. Mo zog jedes Mal die Augenbrauen hoch, wenn er es schaffte, sie zum Lachen zu bringen, und machte ein so verwundert ernstes Gesicht, als wüsste er beim besten Willen nicht, worüber sie lachte. Meggie sah sein Gesicht so deutlich vor sich, dass sie fast die Hand danach ausgestreckt hätte.
»Du wirst deinen Vater bald wiedersehen!«, raunte Fenoglio. »Und dann wirst du ihm erzählen, dass du ganz nebenbei deine Mutter gefunden und sie vor Capricorn gerettet hast. Das ist doch etwas, oder?«
Meggie nickte nur.
Das Kleid kratzte am Hals und an den Armen. Es sah nicht aus wie das Kleid eines Kindes, eher wie das einer Erwachsenen, und es war Meggie etwas zu groß. Als sie ein paar Schritte darin machte, trat sie auf den Saum. Die Ärmel waren eng, doch das Blatt Papier, dünn wie ein Libellenbein, konnte sie ohne Mühe hineinschieben. Sie versuchte es ein paar Mal - hineinschieben, herausziehen. Schließlich ließ sie es stecken. Es knisterte etwas, wenn sie die Hände bewegte oder den Arm hob.
Der Mond stand blass über dem Kirchturm, die Nacht trug sein Licht wie einen Schleier vorm Gesicht, als die Elster wiederkam, um Meggie zu holen.
»Du hast dich nicht gekämmt!«, stellte sie ärgerlich fest. Diesmal hatte sie eine andere Magd dabei, eine untersetzte Frau mit rotem Gesicht und roten Händen, die ganz offenbar keine Angst vor Meggies Hexenkräften hatte. Sie zog Meggie den Kamm so unnachgiebig durchs Haar, dass sie fast aufschrie.
»Schuhe!«, sagte die Elster, als sie Meggies nackte Zehen unter dem Saum des Kleides hervorlugen sah. »Hat denn keiner an die Schuhe gedacht?«
»Sie könnte die dort doch ruhig anziehen.« Die Magd zeigte auf Meggies ausgetretene Turnschuhe. »Das Kleid ist lang genug, man wird sie gar nicht sehen. Außerdem - gehen Hexen nicht immer barfuß?«
Die Elster warf ihr einen Blick zu, der ihr die Stimme auf den Lippen ersterben ließ.
»Genau!«, rief Fenoglio, der die ganze Zeit mit spöttischem Blick beobachtet hatte, wie die beiden Frauen Meggie zurechtmachten. »Das tun sie. Sie gehen immer barfuß. Muss ich mich eigentlich auch noch umziehen für den festlichen Anlass? Was trägt man denn so zu einer Hinrichtung? Ich nehme doch an, dass ich direkt neben Capricorn sitzen werde?«
Die Elster streckte ihr Kinn vor. Es war so weich und klein, als stammte es aus einem anderen, sanfteren Gesicht. »Du kannst bleiben, wie du bist«, sagte sie, während sie Meggie eine perlenbesetzte Spange ins Haar schob. »Gefangene müssen sich nicht umkleiden.« Wie Gift tropfte ihr der Spott von der Stimme.
»Gefangene? Was soll das denn heißen?« Fenoglio schob seinen Stuhl zurück.
»Ja, Gefangene. Was sonst?« Die Elster trat zurück und musterte Meggie mit abschätzendem Blick. »So müsste es gehen«, stellte sie fest. »Seltsam, mit dem offenen Haar erinnert sie mich an irgendjemanden.« Meggie senkte schnell den Kopf, und bevor die Elster sich gründlicher Gedanken über ihre Beobachtung machen konnte, lenkte Fenoglio ihre Aufmerksamkeit auf sich.