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Farid spürte, wie Zauberzunge neben ihm jeden Muskel anspannte - als wollte er loslaufen, hin zu seiner Tochter, die fast so blass war wie ihr Kleid. Warnend umklammerte Farid seinen Arm, doch Zauberzunge schien ihn vergessen zu haben. Ein unvorsichtiger Schritt und er würde aus dem schützenden Schatten treten! »Nicht!« Farid zerrte ihn besorgt zurück - soweit er das vermochte, schließlich reichte er ihm kaum bis zur Schulter. Zum Glück blickten Capricorns Männer nicht in ihre Richtung, sie sahen der Alten nach, als sie den Platz überquerte, so schnell, dass das Mädchen ein paar Mal über den Saum ihres Kleides stolperte.

»Sie sieht blass aus!«, flüsterte Zauberzunge. »Himmel, siehst du, was für eine Angst sie hat? Vielleicht guckt sie ja her, vielleicht können wir ihr irgendwie ein Zeichen geben ...«

»Nein!« Farid hielt ihn immer noch mit beiden Händen fest. »Wir müssen das Feuer legen. Nur das kann ihr helfen. Bitte, Zauberzunge, sie können dich sehen!«

»Nenn mich nicht ständig Zauberzunge. Das macht mich ganz verrückt.«

Die alte Frau verschwand mit Meggie zwischen den Häusern. Flachnase folgte ihnen, schwerfällig wie ein Bär, den man in einen schwarzen Anzug gesteckt hatte, und dann, endlich, gingen auch die anderen. Lachend verschwanden sie in der Gasse, voll Vorfreude auf das, was diese Nacht für sie bereithielt: Tod, gewürzt mit Angst - und die Ankunft eines neuen Schreckens in dem verfluchten Dorf.

Nur der Wachtposten vor Capricorns Haus stand noch da. Mit finsterem Gesicht blickte er den anderen nach, trat nach einer leeren Zigarettenschachtel und schlug die Faust gegen die Mauer. Nur er würde den Spaß verpassen. Der Posten oben auf dem Kirchturm konnte wenigstens von weitem zusehen, aber er ...

Sie hatten damit gerechnet, dass ein Wächter vor dem Haus stehen würde. Farid hatte Zauberzunge erklärt, wie man ihn am besten loswerden konnte, und Zauberzunge hatte genickt und gesagt, genau so würden sie es machen. Als die Schritte von Capricorns Männern verklungen waren und nur noch der Lärm vom Parkplatz heraufdrang, lösten sie sich aus dem Schatten, taten, als träten sie gerade erst aus der Gasse und gingen Seite an Seite auf den Wächter zu. Misstrauisch sah er ihnen entgegen, stieß sich von der Mauer ab, an der er gelehnt hatte, und zog die Flinte von der Schulter. Die Flinte war ein beunruhigender Anblick. Farid fasste sich unwillkürlich wieder an die Stirn, aber wenigstens war der Wächter keiner der Männer, die sie vielleicht gleich erkannt hätten, weder das Hinkebein noch Basta noch sonst einer von Capricorns ganz persönlichen Bluthunden.

»He, du musst uns helfen!«, rief Zauberzunge ihm zu, ohne die Flinte zu beachten. »Die Dummköpfe haben Capricorns Sessel vergessen. Wir sollen ihn runterbringen.«

Der Wächter hielt die Flinte vor der Brust. »Ach ja? Auch das noch. Das Ding bricht einem das Kreuz, so schwer ist es. Woher kommt ihr?« Er musterte Zauberzunges Gesicht, als versuchte er sich zu erinnern, ob er es schon mal gesehen hatte. Farid beachtete er gar nicht. »Seid ihr die aus dem Norden? Ich hab gehört, ihr habt dort eine Menge Spaß.«

»Ja, das stimmt.« Zauberzunge trat so dicht an den Posten heran, dass er einen Schritt zurück machte. »Komm jetzt, du weißt, Capricorn mag es gar nicht, wenn er warten muss.«

Der Wächter nickte mürrisch. »Ja, ja, schon gut«, brummte er, während er zur Kirche hinüberblickte. »Hat sowieso keinen Sinn, hier Wache zu stehen. Was glauben die? Dass der Feuerspucker sich herschleicht, um das Gold zu stehlen? Der Kerl war schon immer ein Feigling, der ist längst über alle Berge ...« Zauberzunge schlug ihm den Flintengriff auf den Kopf, während er noch zur Kirche hinübersah, und zerrte ihn hinter Capricorns Haus, wo die Nacht schwarz wie Ruß war.

»Hast du gehört, was er gesagt hat?« Farid schlang dem bewusstlosen Wächter einen Strick um die Beine. Vom Fesseln verstand er mehr als Zauberzunge. »Staubfinger ist geflohen! Er kann nur ihn gemeint haben! Er ist über alle Berge, hat er gesagt.«

»Ja, ich hab es gehört! Und ich bin genauso froh darüber, aber meine Tochter ist immer noch hier.« Zauberzunge drückte ihm den Rucksack in die Arme und sah sich um. Der Platz lag immer noch so still und verlassen da, als gäbe es keinen Menschen außer ihnen in Capricorns Dorf. Vom Wächter auf dem Kirchturm war kein Laut zu hören, vermutlich starrte er in dieser Nacht nur auf den hell erleuchteten Fußballplatz.

Farid zog zwei Fackeln aus Staubfingers Rucksack und die Flasche mit Brennspiritus. Er ist ihnen entwischt!, dachte er. Einfach entwischt! Fast hätte er laut gelacht.

Zauberzunge lief zurück zu Capricorns Haus, lugte in einige Fenster und schlug schließlich eins von ihnen ein. Er zog dazu die Jacke aus und presste sie gegen das Glas, um das Klirren zu dämpfen. Vom Parkplatz drangen Gelächter und Musik herauf.

»Die Streichhölzer! Ich find sie nicht!« Farid wühlte in Staubfingers Sachen herum, bis Zauberzunge ihm den Rucksack aus der Hand zog.

»Gib her!«, flüsterte er. »Bereite du die Fackeln vor.«

Farid gehorchte. Sorgfältig tränkte er die Watte mit dem beißend riechenden Spiritus. Staubfinger wird zurückkommen, um Gwin zu holen, dachte er, und dann nimmt er mich mit. Aus einer der Gassen klangen Stimmen herüber, Männerstimmen. Für ein paar scheußliche Augenblicke schien es, als näherten sie sich, doch dann verklangen sie wieder, wurden verschluckt von der Musik, die vom Parkplatz heraufdrang und die Nacht erfüllte wie ein schlechter Geruch.

Zauberzunge suchte immer noch nach den Streichhölzern. »Pfui Spinne!«, fluchte er leise und zog die Hand aus dem Rucksack. Marderkötel klebten ihm am Daumen. Er wischte sie an der nächsten Mauer ab, griff noch einmal in den Sack und warf Farid eine Streichholzschachtel zu. Dann zog er noch etwas heraus - das kleine Buch, das Staubfinger in einer eingenähten Seitentasche verwahrte. Farid hatte schon oft darin geblättert. Es waren Bilder hineingeklebt, ausgeschnittene Bilder von Feen und Hexen, von Kobolden, Nymphen und uralten Bäumen ... Zauberzunge sah sie sich an, während Farid die zweite Fackel tränkte. Dann betrachtete er das Foto, das zwischen den Seiten gesteckt hatte, das Foto von Capricorns Magd, die versucht hatte, Staubfinger zu helfen, und dafür in dieser Nacht sterben sollte. Ob sie auch entkommen war? Zauberzunge starrte das Foto an, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt.

»Was ist?« Farid hielt das Streichholz an die tropfende Fackel. Die Flamme loderte auf, zischend und hungrig. Wie schön sie war! Farid leckte sich den Finger und strich hindurch. »Da! Nimm!« Er hielt Zauberzunge die Fackel hin, es war besser, er warf sie durch das Fenster, schließlich war er größer. Doch Zauberzunge stand nur da und starrte das Foto an.

»Das ist die Frau, die Staubfinger geholfen hat«, sagte Farid. »Die, die sie auch gefangen haben! Ich glaube, er ist verliebt in sie. Hier.« Noch einmal hielt er Zauberzunge die brennende Fackel hin. »Worauf wartest du?«

Zauberzunge sah ihn an, als hätte er ihn aus einem Traum aufgeschreckt. »So, so, verliebt«, murmelte er, während er ihm die Fackel aus der Hand nahm. Dann schob er das Foto in die Brusttasche seines Hemdes, blickte noch einmal über den leeren Platz und warf die Fackel durch die zerbrochene Scheibe in Capricorns Haus.

»Heb mich hoch! Ich will sehen, wie es brennt!«

Zauberzunge tat ihm den Gefallen. Das Zimmer schien so etwas wie ein Büro zu sein, Farid sah Papier, einen Schreibtisch, ein Bild von Capricorn an der Wand. Irgendjemand schien hier doch schreiben zu können. Die Fackel lag brennend zwischen den beschriebenen Blättern, sie schleckte und schmatzte, wisperte voll Glück über den so reichlich gedeckten Tisch, loderte auf und sprang weiter, vom Tisch zu den Vorhängen vorm Fenster. Gierig fraß sie sich an dem dunklen Stoff hinauf. Das ganze Zimmer füllte sich mit Rot und Gelb. Rauch quoll zwischen den zerbrochenen Scheiben hervor und biss Farid in die Augen.