Capricorn erhob sich, sobald der alte Mann neben ihm saß. Ohne ein Wort ließ er den Blick über die lange Reihe seiner Männer schweifen, langsam, als riefe er sich bei jedem einzelnen ins Gedächtnis, was er in seinen Diensten geleistet und was er falsch gemacht hatte. Die Stille, die sich breit machte, roch nach Angst. Jedes Gelächter war verstummt, nicht einmal ein Flüstern war zu hören.
»Den meisten von euch«, begann Capricorn mit erhobener Stimme, »muss ich nicht erklären, wofür die drei Gefangenen, die ihr dort seht, bestraft werden! Für den Rest reicht es wohl, wenn ich sage, dass es um Verrat, Geschwätzigkeit und Dummheit geht. Man kann sicherlich darüber streiten, ob Dummheit ein Verbrechen ist, das den Tod verdient. Ich denke, ja, denn sie kann durchaus die gleichen Folgen haben wie Verrat.«
Bei dem letzten Satz erhob sich Unruhe auf den Bänken. Elinor dachte zuerst, Capricorns Worte hätten sie ausgelöst, doch dann hörte sie die Glocke. Selbst Basta hob den Kopf, als ihr Läuten durch die Nacht schallte. Auf ein Zeichen von Capricorn winkte Flachnase fünf Männer zu sich und stapfte mit ihnen davon. Die Zurückgebliebenen steckten beunruhigt die Köpfe zusammen, einige sprangen sogar auf und blickten zum Dorf hinüber. Capricorn aber hob die Hand, um dem Gemurmel, das sich erhoben hatte, ein Ende zu machen. »Es ist nichts!«, rief er, so laut und schneidend, dass es schlagartig wieder still wurde. »Ein Feuer, nichts weiter. Und mit Feuer kennen wir uns schließlich aus, nicht wahr?«
Gelächter erhob sich, doch einige, Frauen und Männer, blickten immer noch beunruhigt zu den Häusern hinüber.
Sie hatten es also getan. Elinor biss sich so fest auf die Lippen, dass es schmerzte. Mortimer und der Junge hatten Feuer gelegt. Noch war über den Dächern kein Rauch zu entdecken, und bald wandten sich alle Gesichter wieder beruhigt Capricorn zu, der irgendetwas über Verrat und Falschheit erzählte, über Disziplin und gefährliche Nachlässigkeit, aber Elinor hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie blickte zu den Häusern, immer wieder, auch wenn sie wusste, dass das nicht klug war.
»Genug zu den Gefangenen, die hier sind!«, rief Capricorn. »Kommen wir zu denen, die entkommen sind.« Cockerell hob einen Sack auf, der hinter Capricorns Sessel gelegen hatte, und reichte ihn ihm. Capricorn griff mit einem Lächeln hinein und hielt etwas hoch: Ein Stück Stoff, von einem Hemd oder einem Kleid, zerrissen und bedeckt mit Blut.
»Sie sind tot!«, rief Capricorn in die Runde. »Ich hätte sie natürlich lieber hier gesehen, doch leider ließ es sich nicht vermeiden, sie auf der Flucht zu erschießen. Nun, um den verräterischen Feuerspucker, den ihr fast alle kennt, ist es nicht schade, und Zauberzunge hat zum Glück eine Tochter hinterlassen, die seine Begabungen geerbt hat.«
Teresa sah Elinor an, die Augen starr vor Angst. »Er lügt!«, flüsterte Elinor ihr zu, auch wenn sie den Blick nicht von den blutbefleckten Fetzen wenden konnte. »Er benutzt meine Lügen! Das ist kein Blut, das ist Farbe, irgendeine Farbe ...«. Doch sie sah, dass ihre Nichte ihr nicht glaubte. Sie glaubte an die blutigen Tücher, ebenso wie ihre Tochter. Elinor sah es Meggies Gesicht an und sie hätte ihr zu gern zugerufen, dass Capricorn log, aber sie wollte, dass er noch eine Weile daran glaubte - dass sie alle tot waren und niemand kommen konnte, um sein schönes Fest zu stören.
»Ja, brüste dich mit einem blutigen Lappen, du elender Brandstifter!«, schrie sie ihm durch das Gitter zu. »Darauf kannst du dir wirklich etwas einbilden. Was brauchst du noch ein Monster? Ihr seid alle Monster! Alle, wie ihr da sitzt! Büchermörder, Kinderräuber!«
Keiner beachtete sie. Ein paar Schwarzjacken lachten und Teresa trat an das Gitter, klammerte die Finger um den dünnen Draht und sah zu Meggie hinüber.
Capricorn ließ den blutigen Stoff auf der Armlehne seines Sessels liegen. Ich kenne diesen Fetzen!, dachte Elinor voll Trotz. Ich hab ihn irgendwo schon mal gesehen. Sie sind nicht tot. Wer sonst soll denn das Feuer gelegt haben? Der Streichholzfresser!, flüsterte etwas in ihr, aber sie wollte es nicht hören. Nein, die Geschichte musste ein gutes Ende nehmen. Das gehörte sich einfach so! Geschichten mit einem traurigen Ende hatte sie noch nie gemocht.
Der Schatten
Mein Himmel ist Messing
Meine Erde Eisen
Mein Mond ein Klumpen Lehm
Pestilenz meine Sonne
Brennend am Mittag
Und ein Dunst des Todes
Bei Nacht.
William Blake, Enions zweiter Klagegesang
In Büchern heißt es oft, dass Hass sich heiß anfühlt, aber auf Capricorns Fest lernte Meggie, dass er kalt war, eine eiskalte Hand, die das Herz erstarren lässt und es gegen die Rippen drückt wie eine geballte Faust. Der Hass ließ sie frieren trotz der milden Luft, die sie umschmeichelte, als wollte sie ihr weismachen, dass die Welt noch heil und gut war, trotz des blutigen Tuches, auf das Capricorn mit einem Lächeln seine beringte Hand legte.
»Gut, das wäre das!«, rief er. »Kommen wir zu dem, weshalb wir eigentlich hier sind. Heute Nacht wollen wir nicht nur ein paar Verräter bestrafen, sondern auch das Wiedersehen mit einem alten Freund feiern. Einige von euch erinnern sich wohl noch an ihn, und die anderen, das verspreche ich euch, werden ihn nie vergessen, wenn sie ihm erst einmal begegnet sind.«
Cockerell verzog das hagere Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. Er freute sich offenbar nicht sonderlich auf dieses Wiedersehen und auch auf einigen anderen Gesichtern machte sich Furcht breit bei Capricorns Worten.
»Gut, genug geredet. Lassen wir uns etwas vorlesen.«
Capricorn lehnte sich in seinem Sessel zurück und nickte der Elster zu.
Mortola klatschte in die Hände und quer über den Platz kam Darius gehastet, mit der Schatulle, die Meggie zuletzt im Zimmer der Elster gesehen hatte. Offenbar wusste er von ihrem Inhalt. Sein Gesicht war noch spitzer als sonst, als er die Schatulle öffnete und sie der Elster mit demütig gesenktem Kopf hinhielt. Die Schlangen schienen schläfrig, denn diesmal streifte Mortola sich keinen Handschuh über, als sie sie heraushob. Sie hängte sie sich sogar über die Schulter, während sie das Buch aus der Schatulle nahm. Dann legte sie die Schlangen zurück, behutsam wie kostbares Geschmeide, schloss den Deckel und gab die Schatulle Darius zurück. Mit betretenem Gesicht blieb er auf dem Podest stehen. Meggie erhaschte einen mitfühlenden Blick von ihm, als die Elster sie auf den Stuhl zog und ihr das Buch auf den Schoß legte.
Da war es also wieder, das unglückselige Ding in seinem bunten Papierkleid. Welche Farbe es wohl darunter hatte? Meggie hob den Schutzumschlag mit dem Finger an und sah dunkelroten Stoff, rot wie die Flammen, die das schwarze Herz umgaben. Alles, was passiert war, hatte zwischen den Seiten dieses Buches begonnen, und nur von seinem Autor konnte nun Rettung kommen. Meggie strich über den Einband, so wie sie es immer tat, bevor sie ein Buch aufschlug. Das hatte sie Mo abgeschaut. Seit sie denken konnte, erinnerte sie sich an diese Bewegung - wie er ein Buch in die Hand nahm, fast zärtlich über den Einband strich und es dann aufschlug, so, als öffnete er eine Schachtel, die bis zum Rand mit nie gesehenen Kostbarkeiten gefüllt war. Natürlich kam es vor, dass hinter dem Einband nicht die Wunder warteten, auf die man gehofft hatte, dann schlug man das Buch wieder zu, ärgerlich über das nicht eingelöste Versprechen, doch so ein Buch war Tintenherz nicht. Schlechte Geschichten erwachen nicht zum Leben. Es gibt keinen Staubfinger in ihnen, nicht einmal einen Basta.