»Ich soll dir etwas ausrichten!« Das Kleid der Elster roch nach Lavendel. Der Duft umgab Meggie wie eine Drohung.
»Solltest du nicht tun, wofür du hier bist, solltest du auf die Idee kommen, dich absichtlich zu versprechen oder die Worte so zu verdrehen, dass der Gast nicht kommt, auf den Capricorn wartet, dann wird Cockerell« - Meggie spürte Mortolas Atem auf der Wange, so dicht beugte sie sich über sie - »dem alten Mann dort die Kehle durchschneiden. Vielleicht wird Capricorn es nicht befehlen, weil er dem Alten seine dummen Lügen glaubt, doch ich glaube sie nicht und Cockerell wird tun, was ich sage. Hast du mich verstanden, Engelchen?« Sie kniff Meggie mit ihren mageren Fingern in die Wange.
Meggie stieß ihre Hand weg und blickte zu Cockerell hinüber. Er trat hinter Fenoglio, lächelte ihr zu und zog ihm den Finger über die Kehle.
Fenoglio stieß ihn zurück und warf Meggie einen Blick zu, der alles in einem sein sollte: Aufmunterung und Trost zugleich und ein stummes Lachen über all die Schrecken, die sie umgaben. Es würde an ihm liegen, ob ihr Plan funktionierte, nur an ihm und seinen Wörtern.
Meggie spürte das Papier in ihrem Ärmel, es kratzte auf der Haut. Ihre Hände kamen ihr vor wie die einer Fremden, als sie in den Seiten blätterte. Die Stelle, an der sie beginnen sollte, war nicht länger nur durch eine umgeknickte Ecke gekennzeichnet. Zwischen den Seiten steckte ein Lesezeichen, schwarz wie verkohltes Holz. »Streich dir das Haar aus der Stirn!«, hatte Fenoglio gesagt. »Das ist mein Zeichen.« Aber gerade als sie die linke Hand hob, wurde es erneut unruhig auf den Bänken.
Flachnase kam zurück, Ruß im Gesicht. Er hastete an Capricorns Seite und raunte ihm etwas zu. Capricorn runzelte die Stirn und sah zu den Häusern hinüber. Meggie entdeckte zwei Rauchfahnen, gleich neben dem Kirchturm. Bleich stiegen sie in den Himmel.
Noch einmal erhob Capricorn sich aus seinem Sessel. Er versuchte gelassen zu klingen, spöttisch, wie ein Mann, der sich über einen Kinderstreich amüsiert, doch sein Gesicht sagte etwas anderes: »Es tut mir Leid, dass ich noch einigen von euch dieses Fest verderben muss, aber heute Nacht kräht auch bei uns der rote Hahn. Es ist ein schmächtiges Hähnchen, doch den Hals umdrehen muss man ihm trotzdem. Flachnase, nimm dir noch mal zehn Männer.«
Flachnase gehorchte und stapfte mit seinen neuen Helfern davon. Die Bänke sahen nun schon deutlich leerer aus. »Keiner von euch zeigt seine Nase wieder hier, bevor ihr den Brandstifter gefunden habt!«, rief Capricorn ihnen nach. »Wir werden ihm gleich hier und heute beibringen, was es heißt, beim Teufel selbst Feuer zu legen!«
Irgendjemand lachte. Doch die meisten der Zurückgebliebenen sahen beunruhigt zum Dorf hinüber. Einige der Mägde waren sogar aufgestanden, doch die Elster rief scharf ihre Namen und sie setzten sich schnell wieder zwischen die anderen, wie Schulkinder, denen man auf die Finger geschlagen hat. Trotzdem blieb es unruhig. Kaum einer sah zu Meggie, fast alle drehten ihr den Rücken zu, zeigten auf den Rauch, steckten die Köpfe zusammen. Am Kirchturm kroch ein rotes Leuchten empor, und über den Dächern ballte sich grauer Rauch.
»Was soll das? Was starrt ihr das bisschen Rauch an?« Nun war der Ärger in Capricorns Stimme nicht mehr zu überhören. »Etwas Rauch, ein paar Flammen. Na und? Wollt ihr euch davon etwa das Fest verderben lassen? Das Feuer ist unser bester Freund, habt ihr das schon vergessen?«
Meggie sah, wie sich die Gesichter zögernd wieder ihr zuwandten. Und dann hörte sie einen Namen. Staubfinger. Eine Frauenstimme hatte ihn gerufen.
»Was soll das?« Capricorns Stimme wurde so scharf, dass Darius fast die Schatulle mit den Schlangen aus den Armen rutschte. »Es gibt keinen Staubfinger mehr. Er liegt dort in den Hügeln, den Mund voll Erde und seinen Marder auf der Brust. Ich will seinen Namen nicht mehr hören. Er ist vergessen, als hätte es ihn nie gegeben ...«
»Das ist nicht wahr.«
Meggies Stimme schallte so laut über den Platz, dass sie selbst zusammenschrak. »Er ist hier!« Sie hielt das Buch hoch. »Egal, was ihr mit ihm macht. Jeder, der die Geschichte liest, wird ihn sehen, sogar seine Stimme kann man hören und wie er lacht und Feuer spuckt.«
Es war still, ganz still auf dem leeren Fußballfeld. Nur ein paar Füße scharrten beunruhigt auf der roten Asche - und plötzlich hörte Meggie etwas in ihrem Rücken. Da war ein Ticken hinter ihr, wie das einer Uhr, und doch klang es anders, es klang wie eine menschliche Zunge, die das Ticken nachahmte: Tick-tack-tick-tack-tick-tack. Das Geräusch kam von den Autos, die hinter dem Drahtzaun parkten und sie mit ihrem Scheinwerferlicht blende-ten. Meggie konnte nicht anders, sie sah sich um, trotz der Elster und all der Blicke, die misstrauisch auf ihr ruhten. Sie hätte sich für ihre Dummheit ohrfeigen können. Was, wenn die anderen die Gestalt nun auch gesehen hatten, die schmale Gestalt, die sich zwischen den Autos aufrichtete und rasch wieder duckte. Aber niemand schien sie bemerkt zu haben, ebenso wenig wie das Ticken.
»Das war eine schöne Ansprache!«, sagte Capricorn langsam. »Doch du bist nicht hier, um Trauerreden auf verstorbene Verräter zu halten. Du sollst lesen. Und noch einmal sage ich das nicht!«
Meggie zwang sich ihn anzublicken. Nur nicht zu den Autos sehen. Was, wenn das wirklich Farid gewesen war? Was, wenn sie sich das Ticken nicht eingebildet hatte ...
Die Elster blickte sich misstrauisch um. Vielleicht hatte sie es ja nun auch gehört, das leise, harmlose Ticken, nichts als eine Zunge, die jemand gegen die Zähne stieß. Was bedeutete das schon? Außer man kannte die Geschichte von Captain Hook und seiner Angst vor dem Krokodil mit dem Ticken im Bauch. Die Elster kannte sie bestimmt nicht. Aber Mo wusste, dass Meggie sein Zeichen verstehen würde. Oft genug hatte er sie mit dem Ticken geweckt, ganz dicht an ihrem Ohr, so dicht, dass es kitzelte. »Frühstück, Meggie!«, hatte er geflüstert. »Das Krokodil ist da!«
Ja, Mo wusste, dass sie das Ticken erkennen würde, das Ticken, mit dem Peter Pan sich auf Hooks Schiff geschlichen hatte, um Wendy zu retten. Er hätte ihr kein besseres Zeichen geben können.
Wendy!, dachte Meggie. Wie war es dann weitergegangen? Für einen Moment vergaß sie fast, wo sie war, doch die Elster erinnerte sie daran. Mit der flachen Hand schlug sie ihr gegen den Kopf. »Fang endlich an, du kleine Hexe!«, zischte sie.
Und Meggie gehorchte.
Hastig schob sie das schwarze Lesezeichen von den Buchstaben. Sie musste sich beeilen, sie musste lesen, bevor Mo irgendeine Dummheit machte. Er wusste ja nicht, was sie und Fenoglio vorhatten.
»Ich werde jetzt anfangen, und ich will, dass mich keiner stört!«, rief sie. »Keiner! Verstanden?« Bitte, dachte sie, bitte unternimm nichts!
Ein paar von Capricorns übrig gebliebenen Männern lachten, Capricorn aber lehnte sich zurück und verschränkte erwartungsvoll die Arme. »Ja, merkt euch, was die Kleine gesagt hat!«, rief er. »Wer sie stört, wird dem Schatten als Begrüßungsgeschenk überreicht.«
Meggie schob zwei Finger in ihren Ärmel. Da waren sie, Fenoglios Worte. Sie sah die Elster an. »Sie stört mich!«, sagte sie laut. »Ich kann nicht lesen, wenn sie hinter mir steht.«
Capricorn gab der Elster ungeduldig ein Zeichen. Mortola verzog das Gesicht, als hätte er ihr befohlen, Seife zu essen, aber sie trat zurück, zwei, drei zögernde Schritte. Das musste reichen.
Meggie hob die Hand und strich sich das Haar aus der Stirn.
Fenoglios Zeichen.
Er begann auf der Stelle mit seiner Vorstellung. »Nein! Nein! Nein! Sie liest nicht!«, rief er und machte einen Schritt auf Capricorn zu, bevor Cockerell ihn zurückhalten konnte. »Ich kann das nicht zulassen! Ich bin der Erfinder dieser Geschichte und ich habe sie nicht geschrieben, damit sie für Mord und Totschlag missbraucht wird!«