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Cockerell versuchte, ihm die Hand auf den Mund zu pressen, doch Fenoglio biss ihm in die Finger und wich ihm mit einer Behändigkeit aus, die Meggie dem alten Mann gar nicht zugetraut hätte.

»Ich habe dich erfunden!«, brüllte er, während Cockerell ihn um Capricorns Sessel jagte. »Und ich bereue es, du schwefelstinkender Schuft.« Dann rannte er auf den Platz hinaus. Erst vor dem Käfig mit den Gefangenen holte Cockerell ihn ein. Für den Spott, den er dafür von den Bänken erntete, drehte er Fenoglio den Arm so fest auf den Rücken, dass der alte Mann einen Schmerzensschrei ausstieß. Doch er sah zufrieden aus, als Cockerell ihn zurück an Capricorns Seite zerrte, sehr zufrieden, denn er wusste, dass er Meggie genug Zeit verschafft hatte. Sie hatten es oft genug geübt. Ihre Finger hatten gezittert, als sie das Blatt aus ihrem Ärmel zog, aber niemand bemerkte etwas, als sie es zwischen die Buchseiten schob. Nicht einmal die Elster.

»Was ist dieser Alte doch für ein Aufschneider!«, rief Capricorn. »Sehe ich vielleicht aus, als hätte mich so einer erfunden?«

Wieder erhob sich Gelächter. Der Rauch über dem Dorf schien vergessen. Cockerell presste Fenoglio die Hand auf den Mund.

»Noch einmal, und diesmal hoffentlich zum letzten Mal!«, rief Capricorn Meggie zu. »Fang an! Die Gefangenen haben lange genug auf den Henker gewartet.«

Stille machte sich noch einmal breit, wieder roch sie nach Angst.

Meggie beugte sich über das Buch auf ihrem Schoß.

Die Buchstaben schienen auf den Seiten zu tanzen.

Komm heraus!, dachte Meggie. Komm heraus und rette uns. Rette uns alle: Elinor und meine Mutter, Mo und Farid. Rette Staubfinger, wenn er noch da ist, und von mir aus sogar Basta.

Ihre Zunge fühlte sich an wie ein kleines Tier, das in ihrem Mund Zuflucht gefunden hatte und sich nun den Kopf an den Zähnen stieß.

»Capricorn hatte viele Männer«, begann sie. »Und jeder von ihnen war gefürchtet in den umliegenden Orten. Nach kaltem Rauch stanken sie, nach Schwefel und all dem, was einem Feuer schmeckt. Wenn einer von ihnen auf den Feldern oder in den Gassen auftauchte, verschlossen die Menschen die Türen und versteckten ihre Kinder. Feuerfinger nannten sie sie, Bluthunde. Capricorns Männer hatten viele Namen. Man fürchtete sie am Tage und nachts schlichen sie sich in die Träume und vergifteten sie. Doch es gab einen, den die Menschen noch mehr fürchteten als Capricorns Männer.« Meggie schien es, als würde ihre Stimme mit jedem Wort größer. Sie schien zu wachsen, bis sie überall war. »Man nannte ihn den Schatten.«

Zwei Zeilen noch tief unten auf der Seite, dann umblättern. Fenoglios Buchstaben warteten. »Sieh dir das an, Meggie!«, hatte er geflüstert, als er ihr das Blatt zeigte. »Bin ich nicht ein Künstler? Gibt es etwas Schöneres auf der Welt als Buchstaben? Zauberzeichen, Stimmen der Toten, Bausteine für wundersame Welten, besser als diese, Trostspender, Vertreiber der Einsamkeit. Hüter von Geheimnissen, Verkünder der Wahrheit ...«

Schmeck jedes Wort, Meggie, flüsterte Mos Stimme in ihr, lass es dir auf der Zunge zergehen. Schmeckst du die Farben? Schmeckst du den Wind und die Nacht? Die Angst und die Freude? Und die Liebe. Schmeck sie, Meggie, und alles erwacht zum Leben.

»Man nannte ihn den Schatten. Er erschien nur, wenn Capricorn ihn rief«, las sie. Wie das Sch ihr über die Lippen zischte, wie dunkel das o sich im Mund formte. »Mal war er rot wie das Feuer, mal grau wie die Asche, die es aus allem macht, was es frisst. Wie die Flamme aus dem Holz, so züngelte er aus der Erde. Seine Finger brachten den Tod, selbst sein Atem. Vor den Füßen seines Herrn erhob er sich, lautlos und ohne Gesicht, witternd wie ein Hund auf der Fährte, und wartete darauf, dass sein Herr auf sein Opfer wies. Man sagte, Capricorn hätte den Schatten aus der Asche seiner Opfer erschaffen lassen, von einem Kobold oder den Zwergen, die sich auf alles verstehen, was Feuer und Rauch hervorbringen. Ganz sicher war keiner, denn es hieß, Capricorn hätte die töten lassen, die den Schatten ins Leben gerufen hatten. Nur eines wusste jeder, dass er unsterblich war, unverletzlich und ohne Mitleid, wie sein Herr.«

Meggies Stimme verschwand, als hätte der Wind sie ihr von den Lippen gewischt.

Etwas erhob sich aus dem Schotter, der den Platz bedeckte, wuchs in die Höhe, streckte aschfarbene Glieder. Die Nacht stank nach Schwefel. Der Geruch brannte Meggie so sehr in den Augen, dass die Buchstaben verschwammen, aber sie musste weiterlesen, während das unheimliche Wesen wuchs, höher und höher, als wollte es den Himmel mit seinen schwefligen Fingern berühren.

»Doch eines Nachts, eine milde, sternenreiche Nacht war es, hörte der Schatten nicht Capricorns Stimme, als er erschien, sondern die eines Mädchens, und als es seinen Namen rief, erinnerte er sich: an all die, aus deren Asche er geformt war, an all den Schmerz und all die Traurigkeit ...«

Die Elster griff über Meggies Schulter. »Was ist das? Was liest du da?«

Aber Meggie sprang auf und wich vor ihr zurück, bevor sie ihr das Blatt entreißen konnte. »Er erinnerte sich«, las sie mit lauter Stimme weiter, »und er beschloss Rache zu nehmen, Rache an denen, die Ursache all dieses Unglücks waren, die die Welt vergifteten mit ihrer Grausamkeit.«

»Sie soll aufhören!«

War das Capricorns Stimme? Meggie stolperte fast über den Rand des Podestes, als sie versuchte der Elster auszuweichen. Darius stand da und starrte sie entgeistert an, mit der Schatulle in der Hand. Und plötzlich, ganz bedächtig, als habe er alle Zeit der Welt, stellte er die Schatulle ab und schlang der Elster von hinten seine dünnen Arme um die Brust. Und er ließ nicht los, sosehr sie auch strampelte und schimpfte. Und Meggie las weiter, den Blick auf den Schatten gerichtet, der da stand und zu ihr herübersah. Er hatte wirklich kein Gesicht, aber er hatte Augen, furchtbare Augen, rot wie das Leuchten, das drüben zwischen den Häusern glomm, wie die Glut eines verborgenen Feuers.

»Nehmt ihr das Buch weg!«, schrie Capricorn. Er stand vor seinem Sessel, gebeugt, als hätte er Angst, seine Beine würden ihm den Dienst verweigern, wenn er auch nur einen Schritt auf den Schatten zutat. »Nehmt es ihr weg!«

Aber keiner seiner verbliebenen Männer rührte sich, keiner der Jungen, keine der Frauen kam ihm zu Hilfe. Sie alle sahen nur den Schatten an, wie er reglos dastand und Meggies Stimme lauschte, als erzählte sie ihm eine lange vergessene Geschichte.

»Ja, Rache wollte er nehmen«, las Meggie weiter. Wenn ihre Stimme doch bloß nicht so gezittert hätte, aber es war nicht leicht zu töten, auch wenn es ein anderer für sie tun würde. »Und so trat der Schatten auf seinen Herrn zu und streckte die aschfahlen Hände nach ihm aus ...«

Wie lautlos sie sich bewegte, die riesige schreckliche Gestalt!

Meggie starrte Fenoglios nächsten Satz an: Und Capricorn fiel auf sein Gesicht, und sein schwarzes Herz stand still ...

Sie konnte es nicht sagen, sie konnte nicht.

Es war alles umsonst gewesen.

Dann stand plötzlich jemand hinter ihr, sie hatte gar nicht bemerkt, dass er auf das Podest gestiegen war. Der Junge war bei ihm, er hatte eine Flinte dabei und zielte damit drohend auf die Bänke - doch niemand dort rührte sich. Niemand rührte auch nur einen Finger, um Capricorn zu retten. Und Mo nahm Meggie das Buch aus der Hand, flog mit den Augen die Zeilen entlang, die Fenoglio hinzugefügt hatte, und las mit fester Stimme zu Ende, was der alte Mann geschrieben hatte: »Und Capricorn fiel auf sein Gesicht, und sein schwarzes Herz stand still, und alle, die mit ihm ge-brandschatzt und gemordet hatten, verschwanden - wie Asche, die der Wind verweht.«