Dieses Buch hatte einen Einband aus Leinen, silbrig grün wie die Blätter einer Weide. Die Kanten waren leicht angestoßen, und die Seiten waren noch so hell, dass jeder Buchstabe klar und schwarz auf dem Papier stand. Über den aufgeschlagenen Seiten lag ein schmales rotes Lesebändchen. Auf der rechten Seite war ein Bild zu sehen. Es zeigte prächtig gekleidete Frauen, einen Feuerspucker, Akrobaten und so etwas wie einen König. Meggie blätterte weiter. Es gab nicht viele Bilder, doch der Anfangsbuchstabe jedes Kapitels war selbst so etwas wie ein kleines Bild. Auf einigen Buchstaben saßen Tiere, um andere rankten sich Pflanzen, ein B brannte lichterloh. So echt sahen die Flammen aus, dass Meggie mit dem Finger darüber strich, um sich zu vergewissern, dass sie nicht heiß waren. Das nächste Kapitel begann mit einem K. Es spreizte sich wie ein Krieger, auf seinem gestreckten Arm hockte ein Tier mit pelzigem Schwanz. Keiner sah, wie er aus der Stadt schlüpfte, las Meggie, aber bevor sich mehr Wörter zusammenfügen konnten, klappte Elinor ihr das Buch vor der Nase zu.
»Ich denke, das reicht«, sagte sie und klemmte es sich unter den Arm. »Dein Vater hat mich gebeten, dieses Buch für ihn an einem sicheren Ort aufzubewahren, und das werde ich jetzt tun.«
Mo griff noch einmal nach Meggies Hand. Diesmal folgte sie ihm. »Bitte, Meggie, vergiss dieses Buch!«, raunte er ihr zu. »Es bringt Unglück. Ich besorge dir hundert andere.«
Meggie nickte nur. Bevor Mo die Tür hinter ihnen schloss, erhaschte sie noch einen letzten Blick auf Elinor. Sie stand da und betrachtete das Buch so zärtlich, wie Mo sie manchmal ansah, wenn er ihr abends die Decke unters Kinn zog.
Dann war die Tür zu.
»Wo tut sie es hin?«, fragte Meggie, während sie Mo den Flur hinunter folgte.
»Oh, sie hat ein paar wunderbare Verstecke für solche Gelegenheiten«, antwortete Mo ausweichend. »Aber sie sind geheim, wie das mit Verstecken eben so ist. Was hältst du davon, wenn ich dir jetzt dein Zimmer zeige?« Er versuchte unbeschwert zu klingen, doch es gelang ihm nicht besonders gut. »Es sieht aus wie ein teures Hotelzimmer. Ach was, viel besser.«
»Hört sich gut an«, murmelte Meggie und blickte sich um, doch von Staubfinger war nichts zu entdecken. Wo war er? Sie musste ihn etwas fragen. Sofort. Sie konnte an nichts anderes denken, während Mo ihr das Zimmer zeigte und ihr erzählte, dass nun alles in Ordnung sei, dass er nur noch seine Arbeit machen und sie dann nach Hause fahren würden. Meggie nickte und tat, als hörte sie ihm zu, aber in Wirklichkeit konnte sie nur an die Frage denken, die sie Staubfinger stellen wollte. Sie brannte ihr so auf den Lippen, dass sie sich wunderte, dass Mo sie nicht dort sitzen sah. Mitten auf ihrem Mund.
Als er sie allein ließ, um das Gepäck aus dem Bus zu holen, lief Meggie in die Küche, aber auch dort war Staubfinger nicht. Selbst in Elinors Schlafzimmer sah sie nach, doch so viele Türen sie auch in dem riesigen Haus öffnete, Staubfinger blieb unauffindbar. Schließlich war sie zu müde, um weiter zu suchen. Mo hatte sich längst hingelegt und auch Elinor war in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Also ging Meggie in ihr Zimmer und legte sich auf das gewaltige Bett. Ganz verloren kam sie sich darin vor, zwergenhaft, als wäre sie geschrumpft. Wie die Alice im Wunderland, dachte sie und strich über die geblümte Bettwäsche. Sonst gefiel ihr das Zimmer. Es war voller Bücher und Bilder. Sogar einen Kamin gab es, aber er sah aus, als hätte ihn seit mehr als hundert Jahren niemand benutzt. Meggie schwang die Beine aus dem Bett und trat ans Fenster. Draußen war es längst dunkel, und als sie die Fensterläden aufstieß, fuhr ihr ein kühler Wind ins Gesicht. Das Einzige, was sie in der Dunkelheit erkennen konnte, war der kiesbestreute Platz vor dem Haus. Eine Laterne warf ihr blasses Licht auf die grauweißen Steine. Mos gestreifter Bus stand neben Elinors grauem Kombi wie ein Zebra, das sich in einen Pferdestall verlaufen hatte. Er hatte die Streifen auf den weißen Lack gepinselt, nachdem er Meggie Das Dschungelbuch geschenkt hatte. Sie dachte an das Haus, das sie so hastig verlassen hatten, an ihr Zimmer und die Schule, in der ihr Platz heute leer geblieben war. Sie war sich nicht sicher, ob sie Heimweh hatte.
Sie ließ die Fensterläden offen stehen, als sie sich schlafen legte. Mo hatte ihre Bücherkiste neben das Bett gestellt. Müde zog sie ein Buch heraus und versuchte sich in den vertrauten Wörtern ein Nest zu bauen, doch es gelang ihr nicht. Immer wieder verwischte die Erinnerung an das andere Buch die Wörter, immer wieder sah Meggie die Anfangsbuchstaben vor sich, groß und bunt, umringt von Gestalten, deren Geschichte sie nicht kannte, weil das Buch keine Zeit gehabt hatte, sie ihr zu erzählen.
Ich muss Staubfinger finden, dachte sie schläfrig. Er muss doch da sein! Aber dann rutschte ihr das Buch aus den Fingern und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen weckte sie die Sonne. Die Luft war noch kühl von der Nacht, aber der Himmel war wolkenlos, und als Meggie sich aus dem Fenster lehnte, konnte sie in der Ferne, zwischen den Zweigen der Bäume, den See schimmern sehen. Das Zimmer, das Elinor ihr zugewiesen hatte, lag im ersten Stock. Mo schlief nur zwei Türen weiter, aber Staubfinger hatte mit einer Kammer unter dem Dach vorlieb nehmen müssen. Meggie hatte sie gestern gesehen, auf der Suche nach ihm. Nur ein schmales Bett stand darin, umgeben von Bücherkisten, die sich bis zum Dachstuhl türmten.
Mo saß schon mit Elinor am Tisch, als Meggie zum Frühstück in die Küche kam, aber Staubfinger war nicht da. »Oh, der hat schon gefrühstückt«, sagte Elinor spitz, als Meggie nach ihm fragte, »und zwar in Gesellschaft eines spitzzahnigen Tieres, das auf dem Tisch saß und mich anfauchte, als ich nichts ahnend in die Küche kam. Ich habe eurem seltsamen Freund klar gemacht, dass Stubenfliegen die einzigen Tiere sind, die ich auf meinem Küchentisch dulde, und daraufhin ist er mit dem Pelztier nach draußen verschwunden.«
»Was willst du von ihm?«, fragte Mo.
»Oh, nichts weiter, ich ... wollte ihn nur was fragen«, sagte Meggie, aß hastig eine halbe Scheibe Brot, trank etwas von dem abscheulich bitter schmeckenden Kakao, den Elinor gekocht hatte, und lief nach draußen.
Sie fand Staubfinger hinter dem Haus, auf einem stachlig kurzen Rasen, auf dem neben einem Gipsengel ein einsamer Liegestuhl stand. Von Gwin war nichts zu entdecken. Ein paar Vögel stritten sich in dem rot blühenden Rhododendron, und Staubfinger stand mit selbstvergessenem Gesicht da und jonglierte. Meggie versuchte die bunten Bälle zu zählen, vier, sechs, acht waren es. Er pflückte sie so schnell aus der Luft, dass ihr schwindelig vom Zuschauen wurde. Auf einem Bein stehend fing er sie, lässig, als brauchte er nicht mal hinzuschauen. Erst als er Meggie bemerkte, entwischte ein Ball seinen Fingern und rollte ihr vor die Füße.
Meggie hob ihn auf und warf ihn Staubfinger zu. »Woher können Sie das?«, fragte sie. »Das sah ... wunderbar aus.«
Staubfinger verbeugte sich spöttisch. Da war es wieder, sein seltsames Lächeln. »Ich verdiene mein Geld damit«, sagte er. »Damit und mit ein paar anderen Dingen.«
»Wie kann man damit Geld verdienen?«
»Auf Märkten. Auf Festen. Auf Kindergeburtstagen. Warst du schon mal auf einem dieser Märkte, wo die Leute so tun, als lebten sie noch im Mittelalter?«
Meggie nickte. Mit Mo war sie mal auf einem solchen Markt gewesen. Wunderschöne Sachen hatte es dort gegeben, fremd, als wären sie nicht einer anderen Zeit, sondern einer anderen Welt entsprungen. Mo hatte ihr eine Dose gekauft, verziert mit bunten Steinen und einem kleinen Fisch aus grün und golden schimmerndem Metall, mit weit aufgesperrtem Maul und einer Kugel im hohlen Bauch, die wie ein Glöckchen klingelte, wenn man die Dose schüttelte. Die Luft hatte nach frisch gebackenem Brot gerochen, nach Rauch und feuchten Kleidern, und Meggie hatte beim Schmieden eines Schwertes zugesehen und sich vor einer verkleideten Hexe hinter Mos Rücken versteckt.