»Ich hab es! Ja, ich hab es!«, rief Farid und stieß die Käfigtür auf. Aber bevor die beiden Frauen auch nur einen Schritt darauf zugehen konnten, erhob sich eine Gestalt in der dunkelsten Ecke des Zwingers, sprang auf sie zu und griff sich die Erste, die ihm in den Weg kam - Meggies Mutter.
»Halt!«, zischte Basta. »Halt, halt, nicht so eilig. Wo willst du denn hin, Resa? Zu deiner lieben Familie? Meinst du, ich habe all das Gewisper unten in der Gruft nicht verstanden? O doch, das habe ich.«
»Lass sie los!«, schrie Meggie. »Lass sie los!« Warum hatte sie denn nur nicht auf das dunkle Bündel geachtet, das da so reglos in der Ecke gelegen hatte? Wie hatte sie denn nur denken können, dass Basta ebenso tot war wie Capricorn? Aber wieso war er es nicht? Warum war er nicht verschwunden, wie Flachnase und Cockerell und all die anderen?
»Lass sie los, Basta!« Mo sprach ganz leise, als hätte er keine Kraft für mehr. »Du kommst hier nicht raus, auch nicht mit ihr. Keiner wird dir helfen, sie sind alle fort.«
»O doch, ich komme raus!«, erwiderte Basta mit hämischer Stimme. »Ich drück ihr die Kehle zu, wenn du mich nicht vorbeilässt. Ich breche ihr den dünnen Hals. Weißt du eigentlich, dass sie nicht sprechen kann? Keinen Ton kann sie von sich geben, weil Darius, der Stümper, sie herausgelesen hat. Ein stummer Fisch ist sie, ein hübscher, stummer Fisch. Aber so wie ich dich kenne, willst du sie trotzdem zurück, nicht wahr?«
Mo antwortete nicht und Basta lachte.
»Warum bist du nicht tot?«, schrie Elinor ihn an. »Warum bist du nicht umgefallen wie dein Herr oder hast dich in Luft aufgelöst? Sag schon!«
Basta zuckte nur die Achseln: »Was weiß ich?«, schnurrte er, während er Resas Hals mit seiner Hand umschloss. Sie versuchte ihn zu treten, doch er drückte ihr die Kehle nur noch fester zu. »Die Elster ist schließlich auch noch da, aber sie hat ja auch immer die anderen die Drecksarbeit machen lassen, und was mich betrifft - vielleicht gehör ich jetzt zu den Guten, weil sie mich in den Käfig gesteckt haben? Vielleicht steh ich noch hier, weil ich schon lange nichts mehr angesteckt hab und Flachnase viel mehr Spaß am Umbringen hatte? Vielleicht, vielleicht, vielleicht ... jedenfalls bin ich noch hier ... und jetzt lass mich durch, Bücherfresserin!«
Aber Elinor rührte sich nicht.
»Nein!«, sagte sie. »Du kommst hier nur raus, wenn du sie loslässt! Ich hätte nie gedacht, dass diese Geschichte ein gutes Ende nimmt, aber sie hat es - und das wirst du kleiner Bastard nicht in letzter Minute verderben. So wahr ich Elinor Loredan heiße!« Mit entschlossener Miene stellte sie sich vor die Käfigtür. »Diesmal hast du dein Messer nicht dabei!«, fuhr sie mit drohend leiser Stimme fort. »Du hast nur dein gemeines Mundwerk, und das, glaub mir, wird dir jetzt gar nichts nützen. Drück ihm die Finger in die Augen, Teresa! Trete ihn, beiß ihn, den Mistkerl!«
Aber bevor Teresa gehorchen konnte, stieß Basta sie von sich, so heftig, dass sie gegen Elinor stolperte und sie umriss, sie und Mo, der den beiden zu Hilfe kommen wollte.
Und Basta sprang auf die offene Käfigtür zu, stieß den verblüfften Farid und Meggie zur Seite - und rannte davon, vorbei an all denen, die immer noch wie Schlafwandler auf Capricorns Festplatz umherirrten. Bevor Farid oder Mo ihm nachlaufen konnten, war er verschwunden.
»Na, fabelhaft!«, murmelte Elinor, während sie mit Teresa aus dem Käfig stolperte. »Jetzt wird der Kerl mich in meinen Träumen verfolgen und jedes Mal, wenn ich nachts draußen in meinem Garten etwas rascheln höre, werde ich mir vorstellen, dass sein Messer mir an der Kehle sitzt.«
Aber nicht nur Basta war fort, auch die Elster verschwand spurlos in dieser Nacht. Und als sie sich müde auf den Weg zum Parkplatz machten, um irgendein Auto zu finden, das sie fortbrachte aus Ca-pricorns Dorf, waren auch sämtliche Wagen verschwunden. Nicht ein Auto stand mehr auf dem nun dunklen Platz.
»O nein, bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist!«, stöhnte Elinor. »Heißt das, wir dürfen wieder zu Fuß gehen, den ganzen dreimal verfluchten stachelübersäten Weg?«
»Wenn du nicht zufällig ein Telefon dabeihast«, sagte Mo. Nicht einen Schritt war er von Teresas Seite gewichen, seit Basta fort war. Er hatte sich besorgt ihren Hals angesehen - die roten Flecken, die Bastas Finger hinterlassen hatten, sah man immer noch -und er hatte sich eine Strähne ihres Haares durch die Finger gleiten lassen und gesagt, dass es ihm dunkel fast noch besser gefiel. Aber neun Jahre sind wirklich eine lange Zeit, und Meggie beobachtete, wie vorsichtig die beiden wieder aufeinander zugingen, wie Menschen auf einer schmalen Brücke, die über ein weites, weites Nichts führt.
Elinor hatte natürlich kein Telefon dabei. Capricorn hatte es ihr abnehmen lassen, und obwohl Farid sich sogleich anbot, Capricorns rußgeschwärztes Haus danach abzusuchen, fand es sich nicht wieder.
Also beschlossen sie schließlich, noch eine letzte Nacht in dem Dorf zu verbringen, zusammen mit all denen, die Fenoglio vom Tod zurückgeholt hatte. Es war immer noch eine wunderschöne, milde Nacht, und unter den Bäumen ließ sich sicherlich gut übernachten.
Meggie besorgte mit Mo Decken, es gab genug davon in dem aufs Neue verlassenen Dorf. Nur Capricorns Haus betraten sie nicht. Meggie wollte nie wieder einen Fuß über seine Schwelle setzen, nicht wegen des beißenden Brandgeruchs, der immer noch aus den Fenstern quoll, nicht wegen der verkohlten Türen, sondern der Erinnerungen wegen, die sie schon bei seinem Anblick ansprangen wie bissige Tiere.
Als sie zwischen Mo und ihrer Mutter unter einer der alten Korkeichen saß, die den Parkplatz umstanden, musste sie für einen Augenblick an Staubfinger denken und fragte sich, ob Capricorn in seinem Fall vielleicht doch nicht gelogen hatte und er wirklich tot irgendwo in den Hügeln lag. Vermutlich werde ich nie erfahren, was aus ihm geworden ist, dachte sie, während sich über ihr eine der blauen Feen mit ratlosem Gesicht auf einem Zweig wiegte.
Das ganze Dorf schien verzaubert in dieser Nacht. Die Luft war erfüllt von Gemurmel, und die Gestalten, die über den Parkplatz schlenderten, sahen aus, als wären sie Kinderträumen entschlüpft und nicht den Worten eines alten Mannes. Auch das fragte sich Meggie in dieser Nacht immer wieder: wo Fenoglio jetzt wohl war und ob es ihm gefiel in seiner eigenen Geschichte. Sie wünschte es ihm so sehr. Aber sie wusste, dass ihm seine Enkel fehlen würden und die Versteckspiele in seinem Küchenschrank.
Bevor Meggie die Augen zufielen, sah sie Elinor zwischen den Kobolden und Feen herumschlendern, mit so glücklichem Gesicht, wie sie es bei ihr noch nie gesehen hatte. Links und rechts von Meggie aber saßen ihre Eltern, und ihre Mutter schrieb, auf Baumblätter, auf den Stoff ihres Kleides und in den Sand. Es gab so viele Wörter, die erzählt sein wollten ...
Heimweh
Und doch wusste Bastian, dass er ohne das Buch nicht weggehen konnte. Jetzt war ihm klar, dass er überhaupt nur dieses Buches wegen hierher gekommen war, es hatte ihn auf geheimnisvolle Art gerufen, weil es zu ihm wollte, weil es eigentlich schon seit immer ihm gehörte!
Michael Ende, Die unendliche Geschichte
Staubfinger sah alles mit an, von einem Dach aus, das gerade so weit entfernt von Capricorns Festplatz war, dass er sich vor dem Schatten sicher fühlte und doch alles verfolgen konnte - durch das Fernglas, das er in Bastas Haus gefunden hatte. Erst hatte er in seinem Versteck bleiben wollen. Zu oft schon hatte er den Schatten töten sehen. Aber ein seltsames Gefühl, unvernünftig wie Bastas Amulette, hatte ihn dann doch hergetrieben: das Gefühl, dass er das Buch beschützen könnte durch seine bloße Anwesenheit. Als er hinaus auf die Gasse schlüpfte, spürte er noch etwas anderes, etwas, das er sich nur ungern eingestand: Er wollte Basta sterben sehen, durch dasselbe Fernglas, mit dem Basta so oft seine künftigen Opfer beobachtet hatte.