Staubfinger sammelte seine Bälle auf und warf sie zurück in seine Tasche. Offen stand sie hinter ihm im Gras. Meggie schlenderte hin und lugte hinein. Sie sah Flaschen und weiße Watte, eine Tüte Milch, doch bevor sie noch mehr entdecken konnte, klappte Staubfinger die Tasche zu. »Tut mir Leid. Berufsgeheimnisse«, sagte er. »Dein Vater hat dieser Elinor das Buch gegeben, stimmt's?«
Meggie zuckte die Achseln.
»Du kannst es mir ruhig sagen. Ich weiß es eh. Ich habe gelauscht. Er ist verrückt, es hier zu lassen, aber was soll's.« Staubfinger setzte sich in den Liegestuhl. Im Gras daneben lag sein Rucksack. Ein buschiger Schwanz lugte heraus.
»Ich habe Gwin gesehen«, sagte Meggie.
»Ach ja?« Staubfinger lehnte sich zurück und schloss die Augen. Im Sonnenlicht sah sein Haar heller aus. »Ich auch. Er steckt im Rucksack. Es ist seine Schlafenszeit.«
»Ich hab ihn in dem Buch gesehen.« Meggie ließ Staubfingers Gesicht nicht aus den Augen, während sie das sagte, aber es regte sich nichts darin. Ihm standen die Gedanken nicht auf der Stirn geschrieben wie Mo. Staubfingers Gesicht war wie ein zugeklapptes Buch, und Meggie hatte das Gefühl, dass er jedem auf die Finger schlug, der versuchte darin zu lesen. »Er saß auf einem Buchstaben«, fuhr sie fort. »Auf einem K. Ich habe die Hörner gesehen.«
»Tatsächlich?« Staubfinger öffnete nicht einmal die Augen. »Weißt du, in welches ihrer tausend Regale diese Büchernärrin es gestellt hat?«
Meggie tat, als hätte sie seine Frage nicht gehört. »Warum sieht Gwin so aus wie das Tier in dem Buch?«, fragte sie. »Haben Sie ihm die Hörner wirklich angeklebt?«
Staubfinger öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.
»Tja, hab ich das?«, fragte er, während er den Himmel musterte. Ein paar Wolken trieben über Elinors Haus. Die Sonne verschwand hinter einer von ihnen und der Schatten fiel auf das grüne Gras wie ein hässlicher Fleck.
»Liest dein Vater dir oft vor, Meggie?«, fragte Staubfinger.
Meggie musterte ihn misstrauisch. Dann kniete sie sich neben den Rucksack und strich über Gwins seidigen Schwanz. »Nein«, sagte sie. »Aber er hat mir das Lesen beigebracht, als ich fünf war.«
»Frag ihn, warum er dir nicht vorliest«, sagte Staubfinger. »Aber lass dich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen.«
»Wieso?« Meggie richtete sich ärgerlich auf. »Er mag es nicht, das ist alles.«
Staubfinger lächelte. Er beugte sich aus dem Liegestuhl und schob die Hand in den Rucksack. »Ah, das fühlt sich nach einem vollen Bauch an«, stellte er fest. »Ich glaube, Gwins nächtliche Jagd war erfolgreich. Hoffentlich hat er nicht wieder irgendein Nest geplündert. Oder sind das nur Elinors Brötchen und Eier?« Gwins Schwanz zuckte hin und her, fast wie der einer Katze.
Meggie musterte den Rucksack voll Unbehagen. Sie war froh, dass sie Gwins Schnauze nicht sehen konnte. Vielleicht klebte ja noch Blut daran.
Staubfinger lehnte sich wieder in Elinors Liegestuhl zurück. »Soll ich dir heute Abend zeigen, wozu die Flaschen, die Watte und all die anderen geheimnisvollen Dinge in meiner Tasche gut sind?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Dazu muss es allerdings dunkel sein, rabenschwarz dunkel. Traust du dich mitten in der Nacht aus dem Haus?«
»Natürlich!«, antwortete Meggie gekränkt, obwohl sie im Dunkeln alles andere als gern draußen war. »Aber sagen Sie mir erst, warum -«
»Sie?« Staubfinger lachte auf. »Herrgott, demnächst sagst du noch Herr Staubfinger zu mir. Ich kann dieses Siezen nicht leiden, also lass es, ja?«
Meggie biss sich auf die Lippen und nickte. Er hatte Recht - das Sie passte nicht zu ihm. »Also gut, warum hast du Gwin die Hörner angeklebt?«, beendete sie ihre Frage. »Und was weißt du über das Buch?«
Staubfinger verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Eine ganze Menge weiß ich darüber«, sagte er. »Und vielleicht erzähle ich dir irgendwann auch davon, aber jetzt haben wir zwei erst einmal eine Verabredung. Heute Nacht, gegen elf, genau hier. Einverstanden?«
Meggie blickte zu einer Amsel hinauf, die sich auf Elinors Dach das Herz aus dem Leib zwitscherte. »Ja«, sagte sie. »Elf Uhr.« Dann lief sie zum Haus zurück.
Elinor hatte Mo vorgeschlagen, seine Werkstatt gleich neben der Bibliothek einzurichten. Dort gab es einen kleinen Raum, in dem sie ihre Sammlung alter Tier- und Pflanzenführer aufbewahrte (es schien keine Art von Büchern zu geben, die Elinor nicht sammelte). Diese Sorte stand in Regalen aus hellem, honigfarbenem Holz. Auf einigen Borden stützten die Bücher gläserne Schaukästen mit aufgespießten Käfern, was Elinor in Meggies Augen nur noch unsympathischer machte. Vor dem einzigen Fenster stand ein Tisch, es war ein schöner Tisch mit gedrechselten Beinen, doch er war kaum halb so lang wie der, den Mo zu Hause in seiner Werkstatt stehen hatte. Vermutlich fluchte er deshalb leise vor sich hin, als Meggie den Kopf durch die Tür steckte.
»Sieh dir den Tisch an!«, sagte er. »Auf dem kann man seine Briefmarkensammlung sortieren, aber keine Bücher binden. Der ganze Raum ist zu klein. Wo soll ich die Presse aufstellen, wo das Werkzeug lassen ... Letztes Mal habe ich oben unter dem Dach gearbeitet, aber dort stapeln sich inzwischen auch überall die Bücherkisten.«
Meggie strich mit der Hand über die dicht an dicht stehenden Buchrücken. »Sag ihr einfach, du brauchst einen größeren Tisch.«
Vorsichtig zog sie ein Buch aus dem Regal und schlug es auf. Die eigenartigsten Insekten waren darin abgebildet, Käfer mit Hörnern, Käfer mit Rüsseln, einer hatte sogar eine richtige Nase. Meggie fuhr mit dem Zeigefinger über die blassfarbigen Bilder. »Mo, warum hast du mir eigentlich nie vorgelesen?«
Ihr Vater drehte sich so abrupt um, dass ihr fast das Buch aus der Hand rutschte. »Wieso fragst du mich das? Du hast mit Staubfinger gesprochen, stimmt's? Was hat er dir erzählt?«
»Nichts. Gar nichts!« Meggie wusste selbst nicht, warum sie log. Sie schob das Käferbuch zurück an seinen Platz. Fast kam es ihr vor, als spinne jemand ein hauchfeines Netz um sie beide, ein Netz aus Geheimnissen und Lügen, das immer dichter wurde. »Ich finde, es ist eine gute Frage«, sagte sie, während sie nach einem anderen Buch griff. Es hieß Meister der Tarnung. Die Tiere darin sahen aus wie lebendige Zweige oder trockene Blätter.
Mo kehrte ihr wieder den Rücken zu. Er begann sein Werkzeug auf dem viel zu kleinen Tisch auszulegen: Ganz links die Falzbeine, dann den rundköpfigen Hammer, mit dem er die Buchrücken in Form klopfte, das scharfe Papiermesser ...
Sonst pfiff er dabei immer leise vor sich hin, aber jetzt war er ganz still. Meggie spürte, dass seine Gedanken weit fort waren. Aber wo waren sie?
Schließlich setzte er sich auf die Tischkante und sah sie an. »Ich lese nun mal nicht gerne vor«, sagte er, als gäbe es nichts Uninteressanteres auf der Welt. »Das weißt du doch. Es ist einfach so.«
»Warum nicht? Du erzählst mir doch auch Geschichten. Du kannst wunderbar Geschichten erzählen. Du kannst all die Stimmen nachmachen, du kannst es spannend machen und dann wieder komisch ...«
Mo verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle er sich dahinter verbergen.
»Du könntest mir Tom Sawyer vorlesen«, schlug Meggie vor, »oder Wie das Nashorn seine Runzeln bekam.« Das war eine von Mos Lieblingsgeschichten. Als sie noch kleiner war, hatten sie manchmal gespielt, dass in ihren Kleidern auch lauter Krümel säßen, wie in der Haut des Nashorns.