»Ja, das ist eine wunderbare Geschichte.« Mo drehte ihr wieder den Rücken zu. Er hob die Mappe auf den Tisch, in der er seine Vorsatzpapiere aufbewahrte, und blätterte abwesend darin herum. »Jedes Buch sollte mit so einem Papier beginnen«, hatte er mal zu Meggie gesagt. »Am besten mit einem dunklen: dunkelrot, dunkelblau, je nachdem, wie der Einband des Buches ist. Wenn du dann das Buch aufschlägst, ist es wie im Theater: Erst ist da der Vorhang. Du ziehst ihn zur Seite, und die Vorstellung beginnt.«
»Meggie, ich muss jetzt wirklich arbeiten!«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Je schneller ich mit Elinors Büchern fertig bin, desto eher fahren wir auch wieder nach Hause.«
Meggie stellte das Buch mit den verkleideten Tieren zurück an seinen Platz. »Was, wenn er die Hörner nicht angeklebt hat?«, fragte sie.
»Was?«
»Gwins Hörner. Was, wenn Staubfinger sie nicht angeklebt hat?«
»Er hat sie angeklebt.« Mo schob sich einen Stuhl an den viel zu kurzen Tisch. »Übrigens, Elinor ist einkaufen gefahren. Wenn du vor Hunger umkommst, bevor sie zurück ist, mach dir ein paar Pfannkuchen. In Ordnung?«
»In Ordnung«, murmelte Meggie. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm von der nächtlichen Verabredung mit Staubfinger erzählen sollte, aber dann beschloss sie, es nicht zu tun. »Meinst du, ich kann mir ein paar von den Büchern hier mit aufs Zimmer nehmen?«, fragte sie stattdessen.
»Sicher. Solange du sie nicht in deiner Kiste verschwinden lässt.«
»So wie dieser Bücherdieb, von dem du mir erzählt hast?« Meggie klemmte sich drei Bücher unter den linken und vier unter den rechten Arm. »Wie viele hatte er noch mal gestohlen? 30000?«
»40000«, antwortete Mo. »Aber er hat die Besitzer immerhin nicht umgebracht.«
»Nein, das war dieser spanische Mönch, den Namen hab ich vergessen.« Meggie schlenderte zur Tür und schob sie mit der Schuhspitze auf.
»Staubfinger sagt, Capricorn würde dich auch umbringen, um das Buch zu bekommen.« Sie versuchte ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Würde er das, Mo?«
»Meggie!« Mo drehte sich um und zeigte drohend mit dem Papiermesser auf sie. »Leg dich in die Sonne oder steck deine hübsche Nase in die Bücher da, aber lass mich jetzt arbeiten. Und richte Staubfinger aus, dass ich ihn mit diesem Messer hier in sehr dünne Scheiben schneide, wenn er dir weiter solchen Unsinn erzählt.«
»Das war keine Antwort!«, sagte Meggie und schob sich mit ihren Bücherstapeln auf den Flur hinaus.
In ihrem Zimmer angekommen, breitete sie die Bücher auf dem riesigen Bett aus und begann zu lesen: von Käfern, die in verlassene Schneckenhäuser einzogen wie Menschen in ein leeres Haus, von blattförmigen Fröschen und Raupen mit bunten Dornen, weißbärtigen Affen, gestreiften Ameisenfressern und Katzen, die in der Erde nach Süßkartoffeln graben. Alles schien es zu geben, jedes Wesen, das Meggie sich vorstellen konnte, und noch viele mehr, die sie sich nicht hatte vorstellen können.
Aber in keinem von Elinors klugen Büchern fand sie auch nur ein Wort über gehörnte Marder.
Feuer und Sterne
Da erschienen sie mit tanzenden Bären, Hunden und Ziegen, Affen und Murmeltieren, liefen auf dem Seil, schlugen Purzelbäume nach vorwärts und rückwärts, warfen Schwerter und Messer und stürzten sich unverletzt auf deren Spitzen und Schneiden, verschlangen Feuer und zerkauten Steine, übten Taschenspielerkünste unter Mantel und Hut, mit Zauberbechern und Ketten, ließen Puppen miteinander fechten, schmetterten wie die Nachtigall, schrien wie der Pfau, pfiffen wie das Reh, rangen und tanzten beim Klang der Doppelflöte.
Wilhelm Hertz, Spielmannsbuch
Der Tag verging langsam. Von Mo sah Meggie nur am Nachmittag etwas, als Elinor vom Einkaufen kam und ihnen eine halbe Stunde später Spaghetti mit irgendeiner Fertigsoße servierte. »Tut mir Leid, aber ich habe einfach keine Geduld für diese elende Kocherei«, sagte sie, als sie die Töpfe auf den Tisch stellte. »Kann unser Freund mit dem Pelztier vielleicht kochen?«
Staubfinger hob nur bedauernd die Schultern. »Nein, damit kann ich nicht dienen.«
»Mo kann es ganz gut«, sagte Meggie, während sie die wässrige Soße zwischen die Nudeln rührte.
»Der soll meine Bücher restaurieren und nicht kochen«, antwortete Elinor barsch. »Aber wie ist es mit dir?«
Meggie zuckte die Achseln. »Ich kann Pfannkuchen backen«, sagte sie. »Aber warum schaffen Sie sich nicht ein paar Kochbücher an? Sie haben doch sonst alle Sorten Bücher. Das hilft bestimmt.«
Elinor war dieser Vorschlag nicht mal eine Antwort wert.
»Ach, übrigens, noch eine Regel für die Nacht«, sagte sie, nachdem alle eine Weile schweigend vor sich hin gegessen hatten. »Ich dulde kein Kerzenlicht in meinem Haus. Feuer macht mich nervös. Es ernährt sich allzu gern von Papier.«
Meggie schluckte. Sie fühlte sich ertappt. Natürlich hatte sie ein paar Kerzen mitgebracht, sie lagen schon oben auf ihrem Nachttisch, bestimmt hatte Elinor sie gesehen.
Aber Elinor sah nicht Meggie, sondern Staubfinger an, der mit einer Streichholzschachtel spielte. »Ich hoffe, Sie beherzigen diese Regel auch«, sagte sie, »denn offenbar bleibt uns Ihre Gesellschaft noch eine weitere Nacht erhalten.«
»Wenn ich Ihre Gastfreundschaft noch etwas strapazieren darf. Morgen früh bin ich weg, das verspreche ich.« Staubfinger hielt die Streichhölzer immer noch in der Hand. Elinors missbilligender Blick schien ihn nicht weiter zu stören.
»Ich glaube, hier hat jemand ein ganz falsches Bild vom Feuer«, sagte er. »Ich gebe zu, es kann ein bissiges kleines Tier sein, aber man kann es zähmen.« Und mit diesen Worten zog er ein Streichholz aus der Schachtel, zündete es an und schob sich die Flamme in den offenen Mund.
Meggie hielt den Atem an, als seine Lippen sich um das brennende Hölzchen schlossen. Staubfinger öffnete den Mund wieder, zog das erloschene Streichholz heraus und legte es lächelnd auf seinen leeren Teller.
»Sehen Sie, Elinor?«, sagte er. »Es hat mich nicht gebissen. Man kann es leichter zähmen als ein Kätzchen.«
Elinor rümpfte nur die Nase, doch Meggie konnte vor Bewunderung kaum den Blick von Staubfingers Gesicht wenden.
Mo schien das kleine Feuerkunststück nicht überrascht zu haben, auf einen warnenden Blick von ihm ließ Staubfinger die Streichholzschachtel gehorsam in der Hosentasche verschwinden.
»Die Kerzenregel werde ich natürlich beachten«, sagte er schnell. »Kein Problem. Wirklich.«
Elinor nickte. »Gut«, sagte sie. »Aber da ist noch etwas: Sollten Sie heute Abend wieder verschwinden, sobald es dunkel wird, so wie Sie es gestern getan haben, dann kommen Sie besser nicht allzu spät zurück. Um Punkt neun Uhr dreißig schalte ich nämlich meine Alarmanlage ein.«
»Oh, da habe ich ja gestern Abend richtig Glück gehabt.« Staubfinger ließ ein paar Nudeln in der Tasche verschwinden, unbemerkt von Elinor, aber nicht von Meggie. »Ich gebe zu, ich gehe gern nachts spazieren. Die Welt ist dann mehr nach meinem Geschmack, still, fast menschenleer und wesentlich geheimnisvoller. Heute Nacht hatte ich allerdings nicht vor, spazieren zu gehen. Trotzdem müsste ich Sie bitten, diese fabelhafte Anlage etwas später einzuschalten.«
»Ach ja? Und wieso, wenn ich fragen darf?«
Staubfinger zwinkerte Meggie zu. »Nun, ich habe der jungen Dame da eine kleine Vorstellung versprochen. Beginn etwa eine Stunde vor Mitternacht.«
»Aha!« Elinor tupfte sich mit ihrer Serviette etwas Soße von den Lippen. »Eine Vorstellung. Wie wäre es, wenn Sie die auf den Tag legen würden, schließlich ist die junge Dame erst zwölf Jahre alt und sollte um acht im Bett liegen.«