»Hörst du, wie still es ist?« Staubfinger schaltete den Recorder aus. Die nächtliche Stille legte sich wie Watte auf Meggies Ohren. Kein Blatt regte sich, nur das Knistern der Fackeln war zu hören und das Zirpen der Grillen.
Staubfinger schaltete die Musik wieder ein. »Ich habe eigens mit dem Wind gesprochen«, sagte er. »Denn eins musst du wissen: Wenn der Wind sich in den Kopf setzt, mit dem Feuer zu spielen, dann kann selbst ich es nicht zähmen. Aber er hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er sich heute Nacht ruhig verhalten und uns den Spaß nicht verderben wird.«
Mit diesen Worten griff er nach einer der Fackeln, die in Elinors Liegestuhl steckten. Er nahm einen Schluck aus der Flasche mit dem eingesperrten Mondlicht und spuckte etwas Weißliches in die große Vase. Danach tauchte er die Fackel, die er in der Hand hielt, in den Eimer, zog sie wieder heraus und hielt ihren tropfenden, watteumwickelten Kopf an eine ihrer brennenden Schwestern. Das Feuer loderte so plötzlich auf, dass Meggie zusammenfuhr. Staubfinger aber setzte die zweite Flasche an die Lippen und füllte sich den Mund, bis seine narbigen Backen prall waren. Dann holte er tief, tief Luft, spannte den Körper wie einen Bogen und spuckte, was immer da in seinem Mund war, über der brennenden Fackel in die Luft.
Ein Feuerball hing über Elinors Rasen, ein gleißend heller Feuerball. Wie etwas Lebendiges fraß er an der Dunkelheit. Und groß war er, so groß, dass Meggie sicher war, dass alles um ihn her im nächsten Augenblick in Flammen aufgehen würde, alles, das Gras, der Stuhl und Staubfinger selbst. Der aber drehte sich um sich selbst, ausgelassen wie ein tanzendes Kind, und spuckte noch einmal Feuer. Hoch in den Himmel ließ er es steigen, als wollte er die Sterne in Brand setzen. Dann entzündete er eine zweite Fackel und strich sich mit der Flamme über die nackten Arme. Glücklich wie ein Kind sah er aus, das mit seinem Lieblingstier spielt. Das Feuer leckte an seiner Haut wie etwas Lebendiges, ein züngelndes brennendes Wesen, das er sich zum Freund gemacht hatte, das ihn liebkoste und für ihn tanzte und die Nacht vertrieb. Hoch in die Luft warf er die Fackel, dorthin, wo gerade noch der Feuerball geglüht hatte, fing sie wieder auf, entzündete andere, jonglierte mit drei, vier, fünf Fackeln. Ihr Feuer wirbelte um ihn herum, tanzte mit ihm, ohne ihn zu beißen: Staubfinger, der Flammenbändiger, Funkenspucker, Feuerfreund. Er ließ die Fackeln verschwinden, als hätte die Dunkelheit sie gefressen, und verbeugte sich lächelnd vor der sprachlosen Meggie.
Wie verzaubert saß sie da, auf der harten Bank, und konnte sich nicht satt sehen, als er erneut die Flasche an den Mund setzte und der Nacht wieder und wieder das Feuer ins schwarze Gesicht spuckte.
Meggie wusste später nie zu sagen, was ihren Blick weggelockt hatte von den wirbelnden Fackeln und sprühenden Funken, hin zum Haus und seinen Fenstern. Vielleicht spürt man die Anwesenheit von Bosheit auf der Haut wie plötzliche Hitze oder Kälte ... vielleicht hatte aber auch nur das Licht ihre Augen eingefangen, das plötzlich durch die Fensterläden der Bibliothek sickerte, auf die Rhododendronbüsche, die ihre Blätter gegen das Holz pressten. Vielleicht.
Sie glaubte Stimmen zu hören, lauter als Staubfingers Musik, Männerstimmen, und eine furchtbare Angst machte sich in ihr breit, genauso schwarz und fremd wie in der Nacht, in der Staubfinger draußen auf dem Hof gestanden hatte.
Als sie aufsprang, entglitt Staubfinger eine brennende Fackel und fiel ins Gras. Schnell trat er das Feuer aus, bevor es sich weiterfraß, dann folgte er Meggies Blick und sah wie sie zum Haus hinüber, ohne ein Wort.
Meggie aber lief los. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie auf das Haus zurannte. Die Tür stand einen Spalt weit auf, in der Eingangshalle brannte kein Licht, aber Meggie hörte laute Stimmen den Flur hinunterschallen, der zur Bibliothek führte. »Mo?«, rief sie, und da war die Angst wieder, schlug den krummen Schnabel in ihr Herz.
Auch die Tür der Bibliothek stand offen. Meggie wollte gerade hinein, als zwei kräftige Hände sie an den Schultern packten.
»Still!«, zischte Elinor und zog sie in ihr Schlafzimmer. Meggie sah, dass ihre Finger zitterten, als sie die Tür abschloss.
»Lass das!« Meggie zerrte Elinors Hand weg, versuchte den Schlüssel wieder herumzudrehen, wollte sie anschreien, dass sie ihrem Vater helfen musste, aber Elinor presste ihr die Hand auf den Mund und zerrte sie von der Tür weg, so heftig Meggie auch um sich schlug und trat. Elinor war stark, viel stärker als Meggie.
»Es sind zu viele!«, zischte sie, während Meggie versuchte, ihr in die Finger zu beißen. »Vier oder fünf große Kerle, und sie sind bewaffnet.« Sie zog die strampelnde Meggie mit sich zu der Wand neben dem Bett. »Schon hundertmal hab ich mir vorgenommen, mir so einen verdammten Revolver zu kaufen!«, flüsterte sie, während sie das Ohr gegen die Wand presste. »Ach was, tausendmal.«
»Natürlich ist es hier!« Meggie hörte die Stimme, auch ohne dass sie an der Wand lauschen musste. Rau war sie, wie eine Katzenzunge. »Sollen wir dein Töchterchen aus dem Garten holen, damit sie es uns zeigt? Oder willst du das vielleicht doch besser selbst übernehmen?«
Meggie versuchte noch einmal, Elinors Hand von ihrem Mund zu zerren. »Gib endlich Ruhe!«, zischte Elinor ihr ins Ohr. »Du bringst ihn nur in Gefahr. Hörst du?«
»Meine Tochter? Was wisst ihr von meiner Tochter?« Das war Mos Stimme.
Meggie schluchzte auf. Sofort hatte sie Elinors Finger wieder auf dem Gesicht. »Ich habe versucht, die Polizei anzurufen!«, wisperte sie ihr ins Ohr. »Aber die Leitungen sind tot.«
»Oh, wir wissen alles, was wir wissen müssen.« Das war wieder die andere Stimme. »Also, wo ist das Buch?«
»Ich gebe es euch!« Mos Stimme klang müde. »Aber ich komme mit euch, denn ich will das Buch zurückhaben, sobald Capricorn es nicht mehr braucht.«
Ich komme mit ... Was meinte er damit? Er konnte doch nicht einfach weggehen. Meggie wollte wieder zur Tür, aber Elinor hielt sie fest. Meggie wollte sie wegstoßen, doch Elinor umschlang sie mit ihren kräftigen Armen und presste ihr wieder die Finger auf die Lippen.
»Umso besser. Wir sollten dich sowieso mitbringen«, sagte eine zweite Stimme. Sie klang breit und grob. »Du glaubst gar nicht, wie sehr Capricorn sich danach verzehrt, deine Stimme zu hören. Er hat großes Vertrauen in deine Fähigkeiten.«
»Ja, der Ersatz, den Capricorn für dich gefunden hat, ist ein fürchterlicher Stümper.« Das war wieder die Katzenstimme. »Sieh dir Cockerell an.« Meggie hörte das Scharren von Füßen. »Er humpelt, und Flachnases Gesicht sah auch schon besser aus. Obwohl er noch nie eine Schönheit war.«
»Rede nicht lange herum, wir haben nicht ewig Zeit, Basta. Wie sieht's aus, nehmen wir seine Tochter auch gleich mit?« Noch eine Stimme. Sie klang, als drückte jemand dem Sprecher die Nase zu.
»Nein!«, fuhr Mo ihn an. »Meine Tochter bleibt hier, oder ich werde euch das Buch nicht geben!«
Einer der Männer lachte. »O doch, Zauberzunge, das würdest du, aber sei unbesorgt. Es war keine Rede davon, sie mitzubringen. Ein Kind würde uns nur aufhalten, und Capricorn wartet schon viel zu lange auf dich. Also, wo ist das Buch?«
Meggie presste ihr Ohr so fest gegen die Wand, dass es schmerzte. Sie hörte Schritte und dann ein Schaben, als würde etwas zur Seite geschoben.
Elinor neben ihr hielt den Atem an.
»Kein schlechtes Versteck!«, sagte die Katzenstimme. »Cockerell, pack es ein. Und pass gut darauf auf. Nach dir, Zauberzunge. Los.«
Sie gingen. Meggie versuchte verzweifelt, sich aus Elinors Arm zu winden. Sie hörte, wie die Tür der Bibliothek zufiel, wie die Schritte sich entfernten, leiser und leiser wurden. Dann war es still. Und Elinor ließ sie endlich los.