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Meggie wusste nicht, was an einer Zeit aufregend war, in der die Leute, wenn man Elinor glaubte, nur die Wahl gehabt hatten, an der Pest zu sterben oder von herumziehenden Soldaten umgebracht zu werden. Doch Elinors Gesicht bekam beim Anblick einer niedergebrannten Burg rote Flecken vor Aufregung, und in den sonst so kieselkühlen Augen zeigte sich ein romantisches Leuchten, wenn sie von kriegslüsternen Fürsten und goldgierigen Bischöfen erzählte, die einst die Berge, durch die sie auf gut gepflasterten Straßen fuhren, mit Angst und Tod erfüllt hatten.

»Liebe Elinor, Sie scheinen ganz offensichtlich in der falschen Geschichte geboren worden zu sein«, sagte Staubfinger irgendwann. Es waren die ersten Worte, die er seit ihrem Aufbruch sprach.

»In der falschen Geschichte? In der falschen Zeit, meinen Sie. Ja, das habe ich auch schon des Öfteren gedacht.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Staubfinger. »Auf jeden Fall müssten Sie sich mit Capricorn bestens verstehen. Er mag dieselben Geschichten wie Sie.«

»Soll das eine Beleidigung sein?«, fragte Elinor gekränkt. Der Vergleich schien ihr zu schaffen zu machen, denn danach schwieg sie für fast eine Stunde, sodass Meggie erneut nichts von ihren dunklen Gedanken ablenkte. Und schon warteten in jedem Tunnel wieder die Schreckensbilder.

Es begann zu dämmern, als die Berge zurückwichen und hinter grünen Hügeln, weit wie ein zweiter Himmel, plötzlich das Meer auftauchte. Die tief stehende Sonne ließ es schimmern wie die Haut einer schönen Schlange. Es war lange her, dass Meggie das Meer gesehen hatte. Es war ein kaltes Meer gewesen, schiefergrau und blass vom Wind. Dieses Meer sah anders aus, ganz anders.

Es wärmte Meggie das Herz, es nur anzusehen, aber es verschwand viel zu oft hinter hässlich hohen Häusern. Überall wucherten sie auf dem schmalen Streifen Land, der zwischen dem Wasser und den herandrängenden Hügeln lag. Doch manchmal ließen die Hügel den Häusern keinen Platz, machten sich breit, drängten bis ans Meer und ließen es an ihren grünen Füßen lecken. Wie Wellen, die an Land gekrochen waren, lagen sie da im Licht der untergehenden Sonne.

Während sie der sich windenden Küstenstraße folgten, begann Elinor wieder zu erzählen, irgendetwas über die Römer, die angeblich ebendiese Straße gebaut hatten, die sie entlangfuhren, über ihre Angst vor den wilden Bewohnern dieses schmalen Streifen Landes ...

Meggie hörte nur mit halbem Ohr zu. Am Straßenrand wuchsen Palmen, die Köpfe staubig und stachlig. Zwischen ihnen blühten riesige Agaven, wie Spinnen hockten sie da mit ihren fleischigen Blättern. Der Himmel hinter ihnen färbte sich rosa und zitronengelb, während die Sonne immer tiefer aufs Meer zusank und von oben ein dunkles Blau herabsickerte wie auslaufende Tinte. Der Anblick war so schön, dass es schmerzte.

Meggie hatte sich den Ort, an dem Capricorn hauste, ganz anders vorgestellt. Schönheit und Angst tun sich nur schwer zusammen.

Sie fuhren durch einen kleinen Ort, vorbei an Häusern, die so bunt waren, als hätte ein Kind sie gemalt. Orange und rosa waren sie, rot und immer wieder gelb: blassgelb, braungelb, sandig gelb, schmutzig gelb, mit grünen Fensterläden und rotbraunen Dächern. Selbst die aufziehende Dämmerung konnte ihnen nicht die Farben nehmen.

»Gefährlich sieht es hier nicht gerade aus«, stellte Meggie fest, als wieder so ein rosa Haus vorbeihuschte.

»Weil du immer nur nach links siehst!«, sagte Staubfinger hinter ihr. »Aber es gibt immer eine helle und eine dunkle Seite. Sieh mal nach rechts.«

Meggie gehorchte. Zuerst waren auch da nur die bunten Häuser. Ganz dicht am Straßenrand standen sie, lehnten sich aneinander, als hielten sie einander im Arm. Doch dann waren die Häuser plötzlich fort, und steile Hänge, in deren Falten schon die Nacht nistete, säumten die Straße. Ja, Staubfinger hatte Recht, dort sah es unheimlich aus, und die wenigen Häuser schienen zu ertrinken in der aufziehenden Finsternis.

Es wurde rasch dunkler, die Nacht kommt schnell im Süden, und Meggie war froh, dass Elinor weiter die hell erleuchtete Küstenstraße entlangfuhr. Doch schließlich wies Staubfinger sie an, eine Straße zu nehmen, die fort von der Küste führte, fort vom Meer und den bunten Häusern, hinein in die Dunkelheit.

Immer tiefer wand die Straße sich in die Hügel hinein, mal hinauf, mal hinab, bis die Abhänge am Straßenrand immer steiler wurden. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf Ginster und verwilderte Weinstöcke, auf Olivenbäume, die sich am Straßenrand krümmten wie alte Männer.

Nur zweimal kam ihnen ein anderer Wagen entgegen. Ab und zu tauchten die Lichter eines Dorfes aus der Dunkelheit auf. Aber die Straßen, die Staubfinger Elinor wies, führten fort von allen Lichtern und nur immer tiefer hinein in die Nacht. Mehrere Male fiel das Scheinwerferlicht auf die verfallenen Reste eines Hauses, doch Elinor wusste über keins von ihnen eine Geschichte zu erzählen. Zwischen den ärmlichen Mauern hatten keine Fürsten gewohnt, keine Bischöfe im roten Mantel, nur Bauern und Landarbeiter, deren Geschichten niemand aufgeschrieben hatte, und nun waren sie verloren, verschwunden unter wildem Thymian und wuchernder Wolfsmilch.

»Sind wir etwa immer noch richtig?«, fragte Elinor irgendwann mit gedämpfter Stimme, als wäre die Welt um sie her zu still, um laut zu sprechen. »Wo soll denn in dieser gottverlassenen Einöde ein Dorf sein? Wahrscheinlich haben wir schon mindestens zweimal die falsche Abzweigung genommen.«

Aber Staubfinger schüttelte nur den Kopf. »Wir sind genau richtig«, antwortete er. »Nur noch über den Hügel da und Sie können die Häuser sehen.«

»Na, hoffentlich!«, brummte Elinor. »Im Moment kann ich kaum die Straße erkennen. Du meine Güte, ich wusste nicht, dass es irgendwo auf der Welt noch so dunkel ist. Hätten Sie mir nicht sagen können, dass es so weit ist? Dann hätte ich noch mal getankt. Ich weiß nicht mal, ob wir es mit dem Benzin wieder zurück an die Küste schaffen.«

»Wessen Auto ist das? Meins?«, fragte Staubfinger gereizt zurück. »Ich habe doch gesagt, ich habe mit den Dingern nichts im Sinn. Und jetzt sehen Sie nach vorn. Gleich müsste die Brücke kommen.«

»Brücke?« Elinor fuhr um die nächste Biegung und trat abrupt auf die Bremse. Mitten auf der Straße stand, beleuchtet von zwei Baulampen, ein Absperrgitter. Das Metall sah angerostet aus, als stünde das Gitter schon seit Jahren da.

»Na bitte!«, rief Elinor und schlug die Hände aufs Lenkrad. »Wir sind falsch. Sag ich es doch!«

»Gar nichts sind wir.« Staubfinger zog Gwin von seiner Schulter und stieg aus. Er sah sich lauschend um, während er auf die Absperrung zuschlenderte. Dann zerrte er das Gitter zum Straßenrand.

Meggie musste fast lachen, als sie Elinors entgeistertes Gesicht sah. »Ist der Kerl jetzt vollständig übergeschnappt?«, flüsterte sie. »Der glaubt doch wohl nicht, dass ich in dieser Finsternis eine abgesperrte Straße hinunterfahre.«

Trotzdem ließ sie den Motor an, als Staubfinger sie ungeduldig weiterwinkte. Sobald sie an ihm vorbei war, zog er das Gitter zurück auf die Straße.

»Sehen Sie mich nicht so an!«, sagte er, als er wieder in den Wagen stieg. »Diese Sperre ist immer da. Capricorn hat sie aufstellen lassen, um unerwünschte Besucher abzuhalten. Es traut sich nicht oft jemand hierher. Die meisten Leute werden von den Geschichten fern gehalten, die Capricorn über das Dorf verbreiten lässt, aber ...«

»Was für Geschichten?«, unterbrach Meggie ihn, obwohl sie sie eigentlich nicht hören wollte.