»Nein, sie wissen nichts. Auch das Mädchen nicht.« Staubfinger sah so angestrengt aus dem Fenster, als gäbe es dort mehr zu sehen als die pechschwarze Nacht. »Ihr Vater hat ihr nichts erzählt. Warum sollte ich es also tun?«
Capricorn nickte.
»Bring die zwei nach hinten!«, befahl er Basta, der immer noch mit der leeren Tüte in der Hand neben ihm stand.
»Was soll das heißen?«, begann Elinor, aber da zerrte Basta sie und Meggie auch schon mit sich.
»Das heißt, dass ich euch zwei hübschen Vögel für die Nacht in einen unserer Käfige sperre«, sagte Basta, während er ihnen die Flinte unsanft in den Rücken stieß.
»Wo ist mein Vater?«, schrie Meggie. Die eigene Stimme schrillte ihr in den Ohren. »Das Buch haben Sie doch jetzt! Was wollen Sie noch von ihm?«
Capricorn schlenderte zu der Kerze, die Staubfinger ausgedrückt hatte, strich mit dem Zeigefinger über den Docht und betrachtete den Ruß auf seiner Fingerkuppe. »Was ich von deinem Vater will?«, sagte er, ohne sich zu Meggie umzudrehen. »Ich will ihn hier behalten, was sonst? Du scheinst nicht zu wissen, über welch außerordentliches Talent er verfügt. Bisher wollte Zauberzunge es nicht in meine Dienste stellen, sosehr Basta auch versucht hat, ihn zu überreden. Aber jetzt, nachdem Staubfinger dich hergebracht hat, wird er tun, was ich von ihm verlange. Da bin ich ganz sicher.«
Meggie versuchte Bastas Hände wegzustoßen, als er nach ihr griff, aber er packte sie am Nacken wie ein Huhn, dem er den Hals umdrehen wollte. Als Elinor ihr zu Hilfe kommen wollte, richtete er den Flintenlauf lässig auf ihre Brust und stieß Meggie auf die Tür zu.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, dass Staubfinger immer noch an dem großen Tisch lehnte. Er blickte sie an, aber diesmal lächelte er nicht. Verzeih!, schienen seine Augen zu sagen. Ich musste es tun. Ich kann das alles erklären!
Aber Meggie wollte nichts verstehen. Und verzeihen wollte sie schon gar nicht. »Ich hoffe, du fällst tot um!«, schrie sie, als Basta sie aus dem Zimmer zerrte. »Ich hoffe, du verbrennst! Ich hoffe, du erstickst an deinem eigenen Feuer!«
Basta lachte, als er die Tür zuzog. »Nun hör sich einer diese kleine Katze an!«, sagte er. »Ich glaube, ich sollte mich vor dir in Acht nehmen.«
Glück und Unglück
Es war mitten in der Nacht; Bingo konnte nicht schlafen. Der Boden war hart, aber daran war er gewöhnt.
Seine Decke war dreckig und roch entsetzlich, aber er war auch daran gewöhnt. Ein Lied ging ihm im Kopf herum, und er konnte es nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Es war das Trmmphlied der Wendeis.
Michael de Larrabeiti, Die Borribles 2 -Im Labyrinth der Wendels
Die Käfige - wie Basta sie genannt hatte -, die Capricorn für unliebsame Gäste bereithielt, lagen hinter der Kirche, an einem asphaltierten Platz, auf dem Müllcontainer und Fässer neben Bergen von Bauschutt standen. Ein leichter Geruch nach Benzin lag in der Luft, und die Glühwürmchen, die ziellos durch die Nacht schwirrten, schienen selbst nicht zu wissen, was sie an diesen Ort verschlagen hatte. Eine Reihe halb verfallener Häuser erhob sich hinter den Containern und dem Schutt. Die Fenster waren nichts als Löcher in den grauen Mauern. Ein paar morsche Fensterläden hingen so schief in ihren Angeln, als würde der nächste Windstoß sie herunterreißen. Nur die Türen im Erdgeschoss hatten offenbar vor nicht allzu langer Zeit einen frischen Anstrich bekommen, ein schmutziges Braun, auf das, ungelenk wie von Kinderhand, eine Zahl gepinselt war. Die letzte Tür trug, soweit Meggie in der Dunkelheit erkennen konnte, eine Sieben.
Basta scheuchte sie und Elinor auf die Vier zu. Für einen Moment war Meggie erleichtert, dass er nicht wirklich einen Käfig gemeint hatte, obwohl die Tür in der fensterlosen Mauer alles andere als einladend aussah.
»Das ist doch alles lächerlich!«, schimpfte Elinor, während Basta die Tür aufschloss und entriegelte. Er hatte sich Verstärkung vom Haus mitgebracht, einen mageren Jungen, der schon die gleiche schwarze Kluft trug wie die erwachsenen Männer in Capricorns Dorf und sichtlich Gefallen daran fand, seine Flinte jedes Mal drohend auf Elinors Brust zu richten, sobald sie den Mund aufmachte. Zum Schweigen brachte sie das nicht.
»Was spielt ihr hier?«, schimpfte sie, ohne den Blick von der Gewehrmündung zu nehmen. »Ich habe gehört, dass diese Berge schon immer ein Paradies für Räuber waren, aber wir leben im 21. Jahrhundert, Mann! Da treibt niemand seinen Besuch mit einer Flinte vor sich her, schon gar nicht so ein Jungchen wie der da ...«
»Soweit ich gehört hab, tut man alles, was man früher getan hat, in diesem feinen Jahrhundert auch«, erwiderte Basta. »Und das Jungchen da hat genau das richtige Alter, um bei uns in die Lehre zu gehen. Ich war noch jünger.« Er stieß die Tür auf. Die Dunkelheit dahinter war schwärzer als die Nacht.
Basta stieß zuerst Meggie, dann Elinor hinein und warf die Tür hinter ihnen zu.
Meggie hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte, wie Basta etwas sagte und der Junge lachte und wie sich ihre Schritte entfernten. Sie streckte die Hände zur Seite, bis ihre Fingerspitzen eine Mauer berührten. Ihre Augen waren nutzlos wie die einer Blinden, sie konnte nicht einmal erkennen, wo Elinor war. Aber sie hörte sie schimpfen, irgendwo zu ihrer Linken.
»Ist in diesem Loch denn nicht wenigstens ein verdammter Lichtschalter? Verflucht noch mal, ich komm mir vor, als wäre ich in einem dieser gottverdammten, unerträglich schlecht geschriebenen Abenteuerromane gelandet, wo die Schurken Augenklappen tragen und mit Messern werfen.« Elinor fluchte gern, das war Meggie schon aufgefallen, und je mehr sie sich aufregte, desto mehr fluchte sie.
»Elinor?« Die Stimme kam irgendwo aus der Finsternis.
Freude, Erschrecken, Überraschung, alles klang aus dem einen Wort.
Meggie stolperte fast über die eigenen Füße, so abrupt drehte sie sich um. »Mo?«
»O nein. Meggie! Wie kommst du denn her?«
»Mo!« Meggie stolperte in die Dunkelheit, auf Mos Stimme zu. Eine Hand packte ihren Arm, Finger fuhren ihr übers Gesicht.
»Na endlich!« Unter der Decke flammte eine nackte Glühbirne auf, und Elinor nahm mit selbstzufriedener Miene den Finger von einem staubigen Schalter. »Elektrisches Licht ist wirklich eine fabelhafte Erfindung!«, sagte sie. »Zumindest das ist ein deutlicher Fortschritt zu anderen Jahrhunderten, findet ihr nicht?«
»Was tut ihr hier, Elinor?«, fragte Mo, während er Meggie an sich drückte. »Wie konntest du zulassen, dass sie sie herbringen?«
»Wie ich es zulassen konnte?« Elinors Stimme überschlug sich fast. »Ich habe nicht darum gebeten, den Babysitter für deine Tochter spielen zu dürfen. Ich weiß, wie man auf Bücher aufpasst, aber mit Kindern ist das, verdammt noch eins, eine andere Sache. Außerdem hat sie sich Sorgen um dich gemacht! Sie wollte dich suchen. Und was macht die dumme Elinor, statt gemütlich zu Hause zu bleiben? Ich kann das Mädchen doch nicht allein gehen lassen, denk ich mir. Aber das habe ich nun von meinem Edelmut! Ich musste mir Gemeinheiten anhören, mir eine Flinte vor die Brust halten lassen und nun auch noch deine Vorwürfe ...«
»Schon gut, schon gut!« Mo schob Meggie von sich und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Es geht mir gut, Mo!«, sagte Meggie, auch wenn ihre Stimme dabei etwas zitterte. »Wirklich.«
Mo nickte und sah zu Elinor hinüber. »Ihr habt Capricorn das Buch gebracht?«
»Natürlich! Du hättest es ihm doch auch gegeben, wenn ich ...« Elinor wurde rot und blickte auf ihre staubigen Schuhe.
»Wenn du es nicht vertauscht hättest«, beendete Meggie ihren Satz. Sie griff nach Mos Hand und hielt sie ganz fest. Sie konnte nicht glauben, dass er wieder bei ihr war, ganz heil und gesund, bis auf den blutigen Kratzer auf seiner Stirn, der fast unter seinem dunklen Haar verschwand. »Haben sie dich geschlagen?« Besorgt strich sie mit dem Zeigefinger über das getrocknete Blut.