Mo musste lächeln, obwohl ihm bestimmt nicht danach zumute war. »Das ist nichts. Mir geht's gut! Mach dir keine Sorgen.«
Meggie fand, dass das keine Antwort war, aber sie fragte nicht weiter.
»Wie seid ihr hergekommen? Hat Capricorn seine Männer noch mal geschickt?«
Elinor schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig«, sagte sie bitter. »Dein schleimzüngiger Freund hat das besorgt. Eine schöne Schlange hast du da in mein Haus gebracht. Erst hat er dich verraten, und danach hat er diesem Capricorn noch das Buch und deine Tochter auf einem Tablett serviert. >Das Mädchen und das Buch<, wir haben es gerade von Capricorn selbst gehört, das war der Auftrag für den Streichholzfresser. Und er hat ihn zur vollsten Zufriedenheit erfüllt.«
Meggie legte sich Mos Arm um die Schulter und verbarg das Gesicht an seiner Seite.
»Das Mädchen und das Buch?« Mo drückte Meggie noch einmal an sich. »Natürlich. Jetzt kann Capricorn sicher sein, dass ich tue, was er verlangt.« Er drehte sich um und schlenderte zu dem Stroh, das in einer Ecke auf dem Boden lag. Mit einem Seufzer setzte er sich darauf, lehnte den Rücken gegen die Mauer und schloss für einen Moment die Augen. »Tja, jetzt sind wir wohl quitt, Staubfinger und ich«, sagte er. »Obwohl ich mich frage, wie Capricorn ihn für den Verrat bezahlen wird. Das, was Staubfinger haben will, kann er ihm nicht geben.«
»Quitt. Wie meinst du das?« Meggie hockte sich neben ihn. »Und was sollst du für Capricorn tun? Was will er von dir, Mo?« Das Stroh war feucht, kein guter Platz zum Schlafen, aber wohl immer noch besser als der kahle Steinboden.
Mo schwieg eine kleine Ewigkeit. Er musterte die kahlen Wände, die verschlossene Tür, den schmutzigen Boden.
»Ich denke, es wird Zeit, dir die ganze Geschichte zu erzählen«, sagte er schließlich. »Obwohl ich sie dir eigentlich nicht an einem so trostlosen Ort erzählen wollte und auch erst, wenn du noch etwas älter bist ...«
»Ich bin zwölf Jahre alt, Mo!« Warum glaubten Erwachsene, dass Kinder Geheimnisse besser ertragen als die Wahrheit? Wussten sie nichts von den dunklen Geschichten, die man sich zusammenspinnt, um die Geheimnisse zu erklären? Erst viele Jahre später, als Meggie selbst Kinder hatte, verstand sie, dass es Wahrheiten gibt, die das Herz mit Verzweiflung füllen bis an den Rand, und dass man von ihnen nicht gern erzählt, schon gar nicht seinen Kindern, außer man hat etwas, das gegen die Verzweiflung etwas Hoffnung setzt.
»Setz dich, Elinor!«, sagte Mo und rückte etwas zur Seite. »Es ist eine längere Geschichte.«
Elinor seufzte und ließ sich umständlich auf dem feuchten Stroh nieder. »Das ist alles nicht wahr!«, murmelte sie. »Das kann alles nicht wahr sein.«
»Das denke ich seit neun Jahren, Elinor«, sagte Mo. Und dann begann er zu erzählen.
Damals
Er hielt das Buch hoch. »Ich lese es dir vor. Zur Aufheiterung.«
»Kommt auch Sport drin vor?«
»Fechten. Ringkämpfe. Folter. Gift. Wahre Liebe. Haß.
Rache. Riesen. Jäger. Böse Menschen. Gute Menschen.
Bildschöne Damen. Schlangen. Spinnen. Schmerzen.
Tod. Tapfere Männer. Feige Männer. Bärenstarke Männer. Verfolgungsjagden. Entkommen. Lügen. Wahrheiten. Leidenschaften. Wunder.«
»Klingt gut«, sagte ich.
William Goldman, Die Brautprinzessin
Du warst gerade drei Jahre alt, Meggie«, begann Mo. »Ich erinnere mich noch, wie wir deinen Geburtstag gefeiert haben. Ich hatte dir ein Bilderbuch geschenkt. Das mit der Seeschlange, die Zahnschmerzen hat und sich um den Leuchtturm wickelt ...«
Meggie nickte. Es lag immer noch in ihrer Kiste und hatte schon zweimal ein neues Kleid bekommen. »Wir?«, fragte sie.
»Ich und deine Mutter.« Mo zupfte sich etwas Stroh von der Hose. »Ich konnte schon damals an keinem Buchladen vorbeigehen. Das Haus, in dem wir wohnten, war sehr klein - die Schuhschachtel nannten wir es, das Mäusehaus, wir gaben ihm viele Namen -, doch ich hatte an diesem Tag schon wieder eine ganze Kiste voll Bücher in einem Antiquariat gekauft. Elinor« - er warf ihr einen Blick zu und lächelte - »hätte ihre Freude an einigen gehabt. Capricorns Buch war auch dabei.«
»Es gehörte ihm?« Meggie sah Mo erstaunt an, doch der schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht, aber ... eins nach dem anderen. Deine Mutter seufzte, als sie die neuen Bücher sah, und fragte, wo wir die nun wieder lassen sollten, doch dann hat sie sie natürlich mit ausgepackt. Ich las ihr damals abends immer etwas vor.«
»Du hast vorgelesen?«
»Ja. Jeden Abend. Deiner Mutter gefiel es. An diesem Abend suchte sie sich Tintenherz aus. Sie mochte schon immer abenteuerliche Geschichten, Geschichten voller Glanz und Finsternis. Sie konnte dir alle Namen von König Artus' Rittern aufzählen und sie wusste alles über Beowolf und Grendel, über alte Götter und nicht ganz so alte Helden. Piratengeschichten mochte sie auch, aber am liebsten war es ihr doch, wenn wenigstens ein Ritter, ein Drache oder wenigstens eine Fee vorkam. Sie war übrigens immer auf der Seite der Drachen.Von denen schien es in Tintenherz keinen einzigen zu geben, aber dafür Glanz und Finsternis im Überfluss und Feen und Kobolde ... Kobolde mochte deine Mutter auch sehr: Brownies, Bucca Boos, Fenoderees, die Folletti mit ihren Schmetterlingsflügeln, sie kannte sie alle. Also gaben wir dir einen Stapel Bilderbücher, machten es uns auf dem Teppich neben dir bequem und ich fing an zu lesen.«
Meggie lehnte den Kopf gegen Mos Schulter und starrte die nackte Wand an. Sie sah sich selbst auf dem schmutzigen Weiß, so wie sie sich von alten Fotos kannte: klein, mit speckigen Beinen, die Haare weißblond (sie waren dunkler geworden seither), wie sie mit kurzen Fingern in großen Bilderbüchern blätterte. Wenn Mo erzählte, geschah das immer: Meggie sah Bilder, lebendige Bilder.
»Die Geschichte gefiel uns«, fuhr ihr Vater fort. »Sie war spannend, gut geschrieben und bevölkert mit den seltsamsten Wesen.
Deine Mutter liebte es, von einem Buch ins Unbekannte gelockt zu werden, und die Welt, in die Tintenherz sie lockte, war ganz nach ihrem Geschmack. Manchmal ging es sehr finster zu, und jedes Mal, wenn es allzu spannend wurde, legte deine Mutter den Finger an die Lippen und ich las leiser, auch wenn wir sicher waren, dass du viel zu beschäftigt mit deinen eigenen Büchern warst, um einer finsteren Geschichte zu lauschen, deren Sinn du ohnehin noch nicht verstanden hättest. Draußen war es längst dunkel, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, es war Herbst, und es zog durch die Fenster. Wir hatten ein Feuer gemacht - die Schuhschachtel hatte keine Zentralheizung, aber einen Ofen in jedem Zimmer - und ich begann mit dem siebten Kapitel. Da passierte es ...«
Mo schwieg. Er blickte vor sich hin, als hätte er sich in den eigenen Gedanken verirrt.
»Was?«, flüsterte Meggie. »Was passierte, Mo?«
Ihr Vater sah sie an. »Sie kamen heraus«, sagte er. »Plötzlich standen sie da, in der Tür zum Flur, als wären sie von draußen hereingekommen. Es knisterte, als sie sich zu uns umdrehten - so als entfaltete jemand ein Stück Papier. Ich hatte ihre Namen noch auf den Lippen: Basta, Staubfinger, Capricorn. Basta hielt Staubfinger am Kragen gepackt wie einen jungen Hund, den man schüttelt, weil er etwas Verbotenes getan hat. Capricorn trug schon damals gern Rot, aber er war neun Jahre jünger und noch nicht ganz so hager, wie er es heute ist. Er besaß ein Schwert, ich hatte noch nie eins aus der Nähe gesehen. Basta hatte auch eins am Gürtel hängen, ein Schwert und sein Messer, während Staubfinger ...« Mo schüttelte den Kopf.