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»Oh, der findet sich immer«, antwortete Staubfinger. »Ich komme inzwischen ganz gut zurecht, obwohl mir immer noch alles zu schnell geht.« Sein Lachen klang nicht fröhlich. »Aber ich würde gern erfahren, wie du dich entscheidest. Ist es dir recht, wenn ich morgen wiederkomme? Gegen Mittag?«

»Sicher. Ich hole Meggie um halb zwei von der Schule ab. Komm danach.«

Meggie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Hastig huschte sie zu ihrem Zimmer zurück. Als die Tür der Werkstatt aufging, zog sie gerade ihre Tür hinter sich zu. Die Decke bis ans Kinn gezogen, lag sie da und belauschte, wie ihr Vater sich von Staubfinger verabschiedete. »Also, danke noch mal für die Warnung!«, hörte sie ihn sagen. Dann entfernten sich Staubfingers Schritte, langsam, stockend, als zögerte er fortzugehen, als hätte er noch nicht alles gesagt, was er sagen wollte.

Doch schließlich war er fort und nur der Regen trommelte immer noch mit nassen Fingern gegen Meggies Fenster.

Als Mo ihre Zimmertür öffnete, schloss sie rasch die Augen und versuchte so langsam zu atmen, wie man es im tiefsten, unschuldigsten Schlaf tut.

Aber Mo war nicht dumm. Manchmal war er geradezu entsetzlich klug. »Meggie, streck mal einen Fuß aus dem Bett«, sagte er.

Widerstrebend schob sie die immer noch kalten Zehen unter der Decke hervor und legte sie in Mos warme Hand.

»Wusste ich's doch«, sagte er. »Du hast spioniert. Kannst du nicht wenigstens ein einziges Mal tun, was ich dir sage?« Mit einem Seufzer schob er ihren Fuß zurück unter die köstlich warme Decke. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett, fuhr sich mit den Händen über das müde Gesicht und blickte aus dem Fenster. Sein Haar war dunkel wie Maulwurfsfell. Meggies Haar war blond wie das ihrer Mutter, von der sie nichts als ein paar blasse Fotos kannte. »Sei froh, dass du ihr mehr ähnelst als mir«, sagte Mo immer. »Mein Kopf würde sich gar nicht gut auf einem Mädchenhals machen.« Aber Meggie hätte ihm gern ähnlicher gesehen. Es gab kein Gesicht auf der Welt, das sie mehr liebte.

»Ich hab sowieso nichts von dem verstanden, was ihr geredet habt«, murmelte sie.

»Gut.«

Mo starrte aus dem Fenster, als stünde Staubfinger immer noch auf dem Hof. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Versuch noch etwas zu schlafen«, sagte er.

Aber Meggie wollte nicht schlafen. »Staubfinger! Was ist das überhaupt für ein Name?«, sagte sie. »Und wieso nennt er dich Zauberzunge?«

Mo antwortete nicht.

»Und dann der, der nach dir sucht ... ich hab gehört, als Staubfinger es gesagt hat ... Capricorn. Wer ist das?«

»Niemand, den du kennen lernen solltest.« Ihr Vater drehte sich nicht um. »Ich dachte, du hättest nichts verstanden? Bis morgen, Meggie.«

Diesmal ließ er die Tür offen. Das Licht aus dem Flur fiel auf ihr Bett. Es mischte sich mit dem Schwarz der Nacht, das durchs Fenster hereinsickerte, und Meggie lag da und wartete, dass die Dunkelheit endlich verschwand und das Gefühl von drohendem Unheil mit sich nehmen würde.

Erst viel später begriff sie, dass das Unheil nicht in dieser Nacht geboren worden war. Es hatte sich nur zurückgeschlichen.

Geheimnisse

»Aber was fangen diese Kinder ohne Geschichtenbücher an?«, fragte Naftali.

Und Reb Zebulun gab zur Antwort: »Sie müssen sich damit abfinden. Geschichtenbücher sind nicht wie Brot. Man kann ohne sie leben.«

»Ich könnte nicht ohne sie leben«, meinte Naftali.

Isaac B. Singer, Naftali, der Geschichtenerzähler, und sein Pferd Sus

Es dämmerte gerade erst, als Meggie aus dem Schlaf fuhr. Über den Feldern verblasste die Nacht, als hätte der Regen den Saum ihres Kleides ausgewaschen. Auf dem Wecker war es kurz vor fünf und Meggie wollte sich auf die Seite drehen und weiterschlafen, als sie plötzlich spürte, dass jemand im Zimmer war. Erschrocken setzte sie sich auf und sah Mo vor ihrem offenen Kleiderschrank stehen.

»Morgen!«, sagte er, während er ihren Lieblingspullover in einen Koffer legte. »Tut mir Leid, ich weiß, es ist sehr früh, aber wir müssen verreisen. Wie wär's mit Kakao zum Frühstück?«

Meggie nickte schlaftrunken. Draußen zwitscherten die Vögel so laut, als wären sie schon seit Stunden wach.

Mo warf noch zwei von ihren Hosen in den Koffer, klappte ihn zu und trug ihn zur Tür. »Zieh dir etwas Warmes an«, sagte er. »Es ist kühl draußen.«

»Wohin verreisen wir?«, fragte Meggie, aber er war schon verschwunden. Verstört warf sie einen Blick nach draußen. Fast erwartete sie Staubfinger dort zu sehen, doch auf dem Hof hüpfte nur eine Amsel über die regenfeuchten Steine. Meggie stieg in ihre Hose und stolperte in die Küche. Auf dem Flur standen zwei Koffer, eine Reisetasche und die Kiste mit Mos Werkzeug.

Ihr Vater saß am Küchentisch und schmierte Brote. Reiseproviant. Als sie in die Küche kam, sah er kurz auf und lächelte ihr zu, aber Meggie sah ihm an, dass er sich Sorgen machte.

»Wir können nicht verreisen, Mo!«, sagte sie. »Ich hab erst in einer Woche Ferien!«

»Und? Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich wegen eines Auftrags wegmuss, während du Schule hast.«

Da hatte er Recht. Es kam sogar oft vor: Jedes Mal, wenn irgendein Antiquar, ein Büchersammler oder eine Bibliothek einen Buchbinder brauchte und Mo den Auftrag bekam, ein paar wertvolle alte Bücher von Schimmel und Staub zu befreien oder ihnen ein neues Kleid zu schneidern. Meggie fand, dass die Bezeichnung »Buchbinder« Mos Arbeit nicht sonderlich gut beschrieb, deshalb hatte sie ihm vor ein paar Jahren ein Schild für seine Werkstatt gebastelt, auf dem Mortimer Folchart, Bücherarzt stand. Und dieser Bücherarzt fuhr nie ohne seine Tochter zu seinen Patienten. So war es immer gewesen und so würde es immer sein, gleichgültig, was Meggies Lehrer dazu sagten.

»Wie ist es mit Windpocken? Hab ich die Entschuldigung schon mal benutzt?«

»Letztes Mal. Als wir zu diesem grässlichen Kerl mit den Bibeln mussten.« Meggie musterte Mos Gesicht. »Mo? Müssen wir weg wegen ... gestern Nacht?«

Einen Augenblick lang dachte sie, er würde ihr alles erzählen -was immer es da zu erzählen gab. Aber dann schüttelte er den Kopf.

»Unsinn, nein!«, sagte er und schob die Brote, die er geschmiert hatte, in einen Plastikbeutel. »Deine Mutter hatte eine Tante. Tante Elinor. Wir waren mal bei ihr, als du ganz klein warst. Sie will schon sehr lange, dass ich ihre Bücher in Ordnung bringe. Sie wohnt an einem der oberitalienischen Seen, ich vergess ständig, welcher es ist, aber es ist sehr schön dort, und es sind höchstens sechs, sieben Stunden Fahrt von hier.« Er sah sie nicht an, während er sprach.

Warum muss das gerade jetzt sein?, wollte Meggie fragen. Aber sie tat es nicht. Sie fragte auch nicht, ob er seine Verabredung am Nachmittag vergessen hatte. Sie hatte zu viel Angst vor den Antworten - und davor, dass Mo sie noch einmal belog.

»Ist sie genauso komisch wie die anderen?«, fragte sie nur. Mo hatte mit ihr schon so einiges an Verwandtschaft besucht. Sowohl seine Familie als auch die von Meggies Mutter war groß und, wie es Meggie vorkam, über halb Europa verstreut.

Mo lächelte. »Ein bisschen komisch ist sie schon, aber du wirst mit ihr klarkommen. Sie hat wirklich wunderbare Bücher.«

»Wie lange sind wir denn weg?«

»Kann schon etwas länger werden.«

Meggie trank einen Schluck Kakao. Er war so heiß, dass sie sich die Lippen verbrannte. Hastig presste sie sich das kalte Messer an den Mund.

Mo schob den Stuhl zurück. »Ich muss noch ein paar Sachen in der Werkstatt zusammenpacken«, sagte er. »Aber es dauert nicht lange. Du bist bestimmt todmüde, aber du kannst ja nachher im Bus schlafen.«