Manchmal, wenn er eine Geschichte erfunden hatte, die so gut war, dass Meggie sie für die Wahrheit hielt, lächelte er plötzlich und sagte: »Reingefallen, Meggie.« Wie damals an ihrem siebten Geburtstag, als er ihr erzählt hatte, dass er draußen zwischen den Krokussen ein paar Feen entdeckt hätte. Aber diesmal kam das Lächeln nicht.
»Als ich deine Mutter vergebens im ganzen Haus gesucht hatte«, fuhr er fort, »und zurück ins Wohnzimmer kam, war Staubfinger verschwunden, samt seinem gehörnten Freund. Nur das Schwert war immer noch da und fühlte sich so wirklich an, dass ich beschloss, nicht an meinem Verstand zu zweifeln. Ich brachte dich zu Bett, ich glaube, ich erzählte dir, dass deine Mutter schon schlafen gegangen sei, und dann begann ich noch einmal damit, Tintenherz zu lesen. Ich las das ganze verfluchte Buch, bis ich heiser war und draußen die Sonne aufging, aber alles, was herauskam, waren eine Fledermaus und ein seidener Umhang, mit dem ich später deine Bücherkiste ausschlug. In den nächsten Tagen und Nächten versuchte ich es immer wieder, bis mir die Augen brannten und die Buchstaben wie betrunken über die Seiten tanzten. Ich aß nicht, ich schlief nicht, ich erfand für dich immer neue Geschichten über den Aufenthaltsort deiner Mutter und ich achtete darauf, dass du nie im selben Zimmer warst, wenn ich las, aus Angst, du könntest auch noch verschwinden. Um mich machte ich mir keine Gedanken, ich hatte seltsamerweise das Gefühl, als Vorleser sicher davor zu sein, zwischen den Seiten zu verschwinden. Ob das wirklich so ist, weiß ich bis heute nicht.« Mo scheuchte eine Mücke von seiner Hand. »Ich las laut, bis ich meine eigene Stimme nicht mehr hören konnte«, erzählte er weiter. »Aber deine Mutter kam nicht zurück, Meggie. Dafür stand am fünften Tag ein seltsamer kleiner Mann, durchsichtig, als wäre er aus Glas, in meinem Wohnzimmer, und der Postbote, der gerade ein paar Briefe in unseren Briefkasten schob, verschwand. Ich fand sein Fahrrad draußen auf dem Hof. Von da an wusste ich, dass weder Wände noch verschlossene Türen dich sicher davor bewahren würden, auch noch zu verschwinden, dich nicht und niemanden sonst. Und ich beschloss, nie wieder aus einem Buch vorzulesen. Weder aus Tintenherz noch aus einem anderen.«
»Was ist aus dem Glasmann geworden?«, fragte Meggie.
Mo seufzte. »Er ist zersplittert, nur wenige Tage später, als ein Laster an unserem Haus vorbeifuhr. Offenbar bekommt es den wenigsten, einfach die Welt zu wechseln. Wir wissen beide, wie glücklich es machen kann, in ein Buch zu schlüpfen und für eine Weile darin zu leben, doch aus einer Geschichte herauszurutschen und sich plötzlich in unserer Welt wiederzufinden scheint nicht sonderlich glücklich zu machen. Staubfinger hat es das Herz gebrochen.«
»Der hat ein Herz?«, fragte Elinor bitter.
»Es würde ihm besser gehen, wenn er keins hätte«, antwortete Mo. »Es verging mehr als eine Woche, bis er wieder vor meiner Tür stand. Es war Nacht, natürlich, seine liebste Tageszeit. Ich packte gerade. Ich hatte beschlossen, dass es sicherer war fortzugehen, denn ich wollte Basta und Capricorn nicht noch einmal mit einem Schwert aus meinem Haus treiben müssen. Staubfinger bestätigte meine Sorge. Es war weit nach Mitternacht, als er auftauchte, aber ich konnte sowieso nicht schlafen.« Mo strich Meggie übers Haar. »Du schliefst damals auch nicht gut. Du hattest schlimme Träume, sosehr ich auch versuchte, sie mit meinen Geschichten zu vertreiben. Ich packte gerade das Werkzeug in meiner Werkstatt ein, als es an der Haustür klopfte, leise, fast verstohlen. Staubfinger tauchte ebenso plötzlich aus der Dunkelheit auf, wie er es vor vier Tagen getan hat, als er nachts wieder vor unserem Haus stand. Ist das wirklich erst vier Tage her? Als er damals wieder auftauchte, sah er aus, als hätte er zu lange nichts gegessen, mager wie eine streunende Katze, die Augen ganz trüb. >Bring mich zurück!<, stammelte er. >Bring mich zurück, bitte! Diese Welt bringt mich um. Sie ist zu schnell, zu voll und zu laut. Wenn ich nicht vor Heimweh sterbe, dann werde ich verhungern. Ich weiß nicht, wovon ich leben soll. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein Fisch ohne Wasser. < Er wollte mir einfach nicht glauben, dass ich es nicht konnte. Er wollte das Buch sehen, wollte es selbst versuchen, obwohl er kaum lesen konnte, aber ich konnte es ihm natürlich nicht geben. Es wäre so gewesen, als hätte ich das Letzte fortgegeben, was ich noch von deiner Mutter besaß. Zum Glück hatte ich es gut versteckt. Ich erlaubte Staubfinger auf dem Sofa zu schlafen, und als ich am nächsten Morgen herunterkam, durchwühlte er immer noch die Regale. In den nächsten zwei Jahren tauchte er immer wieder auf, folgte uns, egal, wo ich hinzog, bis ich es leid war und mich bei Nacht und Nebel mit dir davonmachte.
Danach habe ich nichts mehr von ihm gesehen. Bis vor vier Tagen.«
Meggie sah ihn an. »Er tut dir immer noch Leid«, sagte sie.
Mo schwieg. »Manchmal«, sagte er schließlich.
Elinor kommentierte das mit einem verächtlichen Schnauben. »Du bist noch verrückter, als ich dachte«, sagte sie. »Dieser Bastard ist schuld, dass wir in diesem Loch stecken, wegen ihm schneiden sie uns vielleicht die Hälse durch, und dir tut er Leid?«
Mo zuckte die Achseln und sah hinauf zur Decke, wo ein paar Motten um die kahle Glühbirne flatterten. »Bestimmt hat Capricorn ihm versprochen, dass er ihn zurückbringt«, sagte er. »Im Gegensatz zu mir hat er erkannt, dass Staubfinger für solch ein Versprechen alles tun würde. Zurückzukehren in seine Geschichte, das ist das Einzige, was er sich wünscht. Er fragt nicht mal, ob die Geschichte für ihn ein gutes Ende nimmt!«
»Nun, das ist im richtigen Leben nicht anders«, stellte Elinor mit düsterer Miene fest. »Da weiß man auch nicht, ob es gut ausgeht. In unserem Fall spricht zurzeit mehr für ein schlechtes Ende.«
Meggie saß da, die Arme um ihre Beine geschlungen, das Gesicht an ihre Knie gelehnt, und starrte Löcher in die schmutzig weißen Wände. Sie sah das K vor sich, das K, auf dem der gehörnte Marder hockte, und ihr war, als blickte ihre Mutter hinter dem großen Buchstaben hervor, ihre Mutter, wie sie sie von dem blassen Foto unter Mos Kissen kannte. Sie war also doch nicht fortgelaufen. Wie es ihr wohl ging, dort in der anderen Welt? Ob sie sich noch an ihre Tochter erinnerte? Oder waren Meggie und Mo für sie auch nur noch ein verblassendes Bild? Hatte sie auch Sehnsucht nach ihrer eigenen Welt, so wie Staubfinger?
Hatte Capricorn Sehnsucht? War es das, was er von Mo wollte?
Dass er ihn zurücklas? Was passierte, wenn Capricorn merkte, dass Mo gar nicht wusste, wie? Meggie schauderte.
»Capricorn soll da noch einen anderen Vorleser haben«, fuhr Mo fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Basta hat mir von ihm erzählt, wahrscheinlich, um mir klar zu machen, dass ich keinesfalls unentbehrlich bin. Er soll für Capricorn schon mehr als einen nützlichen Helfer aus einem Buch herausgelesen haben.«
»Ach ja? Und was will er dann von dir?« Elinor richtete sich auf und rieb sich ächzend das Hinterteil. »Ich verstehe gar nichts mehr. Ich hoffe nur, dass das alles hier einer dieser Träume ist, aus denen man mit Nackenschmerzen und einem schlechten Geschmack im Mund erwacht.«
Meggie bezweifelte, dass Elinor tatsächlich diese Hoffnung hegte. Das feuchte Stroh fühlte sich zu wirklich an und die kalte Mauer in ihrem Rücken auch. Sie lehnte sich wieder gegen Mos Schulter und schloss die Augen. Sie bereute so sehr, dass sie kaum eine Zeile von Tintenherz gelesen hatte. Nichts wusste sie über die Geschichte, in der ihre Mutter verschwunden war. Sie kannte nur Mos Geschichten, all die Geschichten, die er ihr in den Jahren, die sie allein waren, über das erzählt hatte, was ihre Mutter fern hielt, Geschichten von Abenteuern, die sie in fernen Ländern erlebte, von furchtbaren Feinden, die immer wieder ihre Heimkehr verhinderten, und von einer Kiste, die sie nur für Meggie füllte, indem sie an jedem verwunschenen Ort etwas Neues, ganz und gar Wundervolles hineinlegte.