»Mo?«, fragte sie. »Glaubst du, es gefällt ihr in dieser Geschichte?«
Mo brauchte lange für seine Antwort. »Die Feen gefallen ihr bestimmt«, sagte er schließlich, »obwohl es launische kleine Dinger sind, und die Kobolde wird sie, so wie ich sie kenne, mit Milch füttern. Ja, ich glaube, das alles wird ihr gefallen ...«
»Und ... was wird ihr nicht gefallen?« Meggie sah ihn besorgt an.
Mo zögerte. »Das Böse«, sagte er schließlich, »es passieren viele schlimme Dinge in diesem Buch und sie hat nie erfahren, dass alles ein halbwegs gutes Ende nimmt, schließlich habe ich ihr die Geschichte nie zu Ende vorgelesen ... Das wird ihr nicht gefallen.«
»Nein, das wird es gewiss nicht«, sagte Elinor. »Aber woher willst du wissen, dass die Geschichte sich nicht ohnehin verändert hat? Schließlich hast du Capricorn und seinen Messerfreund herausgelesen. Die zwei haben wir jetzt am Hals.«
»Ja«, sagte Mo, »aber im Buch sind sie vielleicht trotzdem noch! Glaub mir, ich habe es oft genug gelesen, seit sie herausgekommen sind. Die Geschichte handelt immer noch von ihnen - von Staubfinger, Basta und Capricorn. Heißt das nicht, es ist alles so geblieben, wie es war? Dass Capricorn noch dort ist und wir uns hier nur mit seinem Schatten herumschlagen?«
»Für einen Schatten ist er reichlich furchteinflößend«, sagte Elinor.
»Ja, das stimmt«, sagte Mo und seufzte. »Vielleicht hat sich doch alles geändert. Vielleicht gibt es hinter der gedruckten Geschichte eine andere, viel größere Geschichte, die sich ebenso wandelt, wie unsere Welt es tut? Und die Buchstaben verraten uns darüber gerade so viel wie ein Blick durch ein Schlüsselloch. Vielleicht sind sie nicht mehr als der Deckel zu einem Topf, der viel mehr enthält, als wir lesen können.«
Elinor stöhnte auf. »Himmel, Mortimer!«, sagte sie. »Hör auf, ich bekomme Kopfschmerzen.«
»Glaub mir, die habe ich auch bekommen, als ich anfing, darüber nachzudenken«, antwortete Mo.
Danach schwiegen sie eine ganze Weile, alle drei, jeder von ihnen gefangen in seinen eigenen Gedanken.
Elinor war die Erste, die wieder sprach, doch es klang fast, als redete sie mit sich selbst. »Du meine Güte«, murmelte sie, während sie sich die Schuhe von den Füßen streifte. »Wenn ich mir überlege, wie oft ich mir gewünscht habe, in eins meiner Lieblingsbücher zu schlüpfen. Dabei ist das doch gerade das Gute an Büchern - dass man sie zuklappen kann, wann immer man will.«
Stöhnend bewegte sie ihre Zehen und begann auf und ab zu gehen. Meggie musste sich ein Kichern verkneifen. Elinor sah einfach zu komisch aus, wie sie mit ihren schmerzenden Zehen von der Wand zur Tür und zurück wankte, hin und her, wie ein aufgedrehtes Spielzeug.
»Elinor, du machst mich ganz verrückt! Setz dich wieder hin«, sagte Mo.
»Tue ich nicht!«, fuhr sie ihn an. »Weil ich nämlich verrückt werde, wenn ich sitze.«
Mo verzog das Gesicht und legte Meggie den Arm um die Schultern. »Gut, lassen wir sie laufen!«, raunte er ihr zu. »Wenn sie erst mal zehn Kilometer hinter sich hat, wird sie schon umfallen. Aber du solltest jetzt schlafen. Ich überlasse dir auch mein Bett. Es ist gar nicht so schlecht, wie es aussieht. Wenn du die Augen fest schließt, kannst du dir vorstellen, dass du Wilbur, das Schwein bist, das gemütlich in seinem Stall liegt ...«
». oder Wart, der mit den Wildgänsen im Gras schläft.« Meggie musste gähnen. Wie oft hatten sie und Mo schon dieses Spiel gespielt: »Welches Buch fällt dir ein, welches haben wir vergessen? O ja, das! An das habe ich lange nicht mehr gedacht ...!« Müde streckte sie sich auf dem piksenden Stroh aus.
Mo zog sich den Pullover über den Kopf und deckte sie damit zu. »Eine Decke brauchst du natürlich trotzdem«, sagte er. »Auch wenn du ein Schwein oder eine Gans bist.«
»Aber du wirst frieren.«
»Unsinn.«
»Und wo wollt ihr schlafen, du und Elinor?« Meggie musste schon wieder gähnen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie müde sie war.
Elinor tapste immer noch von Wand zu Wand. »Wer redet denn von Schlafen?«, sagte sie. »Wir halten natürlich Wache.«
»Gut«, murmelte Meggie und drückte die Nase in Mos Pullover. Er ist wieder da, dachte sie, während der Schlaf ihr die Augenlider schwer machte. Alles andere ist egal. Und dann dachte sie: Wenn ich doch nur das Buch endlich lesen könnte. Aber Tintenherz war bei Capricorn - und an den wollte sie jetzt nicht denken, denn sonst würde der Schlaf niemals kommen. Niemals ...
Sie wusste später nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Vielleicht weckten sie ihre kalten Füße oder das stachlige Stroh unter ihrem Kopf. Auf ihrer Armbanduhr war es vier Uhr. Nichts in dem fensterlosen Raum verriet, ob es Tag oder Nacht war, aber Meggie konnte sich nicht vorstellen, dass die Nacht schon vorbei war. Mo saß mit Elinor neben der Tür. Sie sahen beide müde aus, müde und besorgt, und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
»Ja, sie halten mich immer noch für einen Zauberer«, sagte Mo gerade. »Sie haben mir diesen lächerlichen Namen gegeben - Zauberzunge. Und Capricorn ist der festen Überzeugung, dass ich es wiederholen kann, jederzeit, mit jedem beliebigen Buch.«
»Und - kannst du?«, fragte Elinor. »Du hast vorhin doch nicht alles erzählt, oder?«
Mo antwortete eine ganze Weile nicht. »Nein!«, sagte er schließlich. »Weil ich nicht will, dass Meggie mich auch für so etwas wie einen Zauberer hält.«
»Es ist also schon öfter passiert, dass du etwas ... herausgelesen hast?«
Mo nickte. »Ich habe immer schon gern vorgelesen, schon als Junge, und einmal, als ich einem Freund Tom Sawyer vorlas, lag plötzlich eine tote Katze auf dem Teppich, steif wie ein Brett. Dass dafür eins meiner Stofftiere verschwunden war, habe ich erst später gemerkt. Ich glaube, uns ist beiden fast das Herz stehen geblieben, und wir haben uns geschworen und den Schwur mit Blut besiegelt, wie Tom und Huck, dass wir niemandem je von der Katze erzählen würden. Danach habe ich es natürlich immer wieder versucht, heimlich, ohne Zeugen, aber es schien nie zu passieren, wenn ich es wollte. Es schien überhaupt keine Regel zu geben, höchstens die, dass es nur bei Geschichten passierte, die mir gefielen. Natürlich habe ich alles aufbewahrt, was herauskam, bis auf die Kotzgurke, die mir das Buch über den freundlichen Riesen bescherte. Sie stank einfach zu furchtbar. Als Meggie noch sehr klein war, ist manchmal etwas aus ihren Bilderbüchern gekommen, eine Feder, ein winziger Schuh ... wir haben die Sachen immer in ihre Bücherkiste gelegt, aber ihr nicht gesagt, woher sie stammten. Womöglich hätte sie sonst nie wieder ein Buch angefasst, aus Angst, die Riesenschlange mit Zahnweh könnte herauskommen oder sonst jemand Bedrohliches! Aber nie, Elinor, nie, wirklich niemals ist etwas Lebendiges aus einem Buch gekommen. Bis zu jener Nacht.« Mo betrachtete seine Handflächen, als sähe er dort all die Dinge, die seine Stimme den Büchern entlockt hatte. »Warum konnte es nicht jemand Nettes sein, wenn es schon passieren musste, jemand wie ... Babar, der Elefant? Meggie wäre entzückt gewesen.«
O ja, das wäre ich bestimmt gewesen, dachte Meggie. Sie erinnerte sich an den kleinen Schuh und auch an die Feder. Smaragdgrün war sie gewesen, wie die Federn von Polynesia, Doktor Dolittles Papagei.
»Nun ja, ich sag dir, es hätte auch schlimmer kommen können.« Das war typisch Elinor. Als ob es nicht schlimm genug wäre, fern der Welt in einem verfallenen Haus eingesperrt zu sein, umgeben von schwarz gekleideten Männern mit Raubvogelgesichtern und Messern im Gürtel. Aber Elinor konnte sich offenbar tatsächlich Schlimmeres vorstellen. »Stell dir vor, Long John Silver hätte plötzlich in deinem Wohnzimmer gestanden und mit seiner tödlichen Holzkrücke ausgeholt«, raunte sie. »Ich glaube, da ziehe ich diesen Capricorn doch vor. Weißt du was? Wenn wir wieder zu Hause sind, ich meine, in meinem Haus, dann werde ich dir eins dieser netten Bücher geben - Pu der Bär zum Beispiel oder vielleicht auch Wo die wilden Kerle wohnen. Gegen so ein Monster hätte ich eigentlich nichts einzuwenden. Ich werde dir meinen bequemsten Sessel überlassen, dir einen Kaffee kochen, und dann liest du vor. Ja?«