»Ich bin eben vorsichtig«, brummte Flachnase. »Man erzählt sich so einiges.«
»Ja, und wer hat die Geschichten erfunden? Wir, du Dummkopf.«
»Einige gab es auch schon vorher.«
»Egal, was passiert«, raunte Mo Elinor und Meggie zu, während die beiden Männer sich stritten, »überlasst mir das Reden. Eine spitze Zunge kann hier gefährlich sein, glaubt mir. Basta hat sein Messer sehr schnell zur Hand und er benutzt es auch.«
»Nicht nur Basta hat hier ein Messer, Zauberzunge!«, sagte Cockerell und stieß Mo in die dunkle Kirche. Hastig lief ihm Meggie nach.
In der Kirche war es kühl und dämmrig. Nur durch wenige Fenster hoch oben drang das Morgenlicht herein und malte blasse Flecken auf Wände und Säulen. Irgendwann waren sie vermutlich grau gewesen wie die Steinfliesen auf dem Boden, doch jetzt gab es nur noch eine Farbe in Capricorns Kirche. Die Wände, die Säulen, selbst die Decke, alles war rot, zinnoberrot wie rohes Fleisch oder getrocknetes Blut, und für einen Moment hatte Meggie das Gefühl, ins Innere eines Untiers zu treten.
In einer Ecke neben dem Eingang stand die Figur eines Engels, ein Flügel war abgebrochen und über den anderen hatte einer von Capricorns Männern seine schwarze Jacke gehängt. Teufelshörner saßen auf dem Kopf des Engels, wie Kinder sie sich zum Karneval aufs Haar klemmen, zwischen ihnen schwebte noch der Heiligenschein. Wahrscheinlich hatte der Engel irgendwann einmal auf dem Steinsockel vor der ersten Säule gestanden, doch er hatte einer anderen Figur Platz machen müssen. Gelangweilt blickte sein hageres, wachsbleiches Gesicht auf Meggie herab. Der Schöpfer der Figur verstand nicht viel von seinem Handwerk, das Gesicht war bemalt wie das einer Plastikpuppe, mit seltsam roten Lippen und blauen Augen, die nichts von dem Schrecken der farblosen Augen besaßen, mit denen der echte Capricorn die Welt musterte. Doch dafür war die Statue mindestens doppelt so groß wie ihr Vorbild, und jeder, der an ihr vorbeiging, musste den Kopf in den Nacken legen, um ihr in das blasse Gesicht zu sehen.
»Darf man das, Mo?«, fragte Meggie leise. »Sich selbst in einer Kirche aufstellen?«
»Oh, das ist eine ganz alte Sitte!«, flüsterte Elinor ihr zu. »Statuen, die in Kirchen stehen, sind selten die von Heiligen. Die meisten Heiligen konnten nämlich keine Bildhauer bezahlen. In der Kathedrale von ...«
Cockerell gab ihr einen so unsanften Stoß in den Rücken, dass sie nach vorn stolperte. »Weiter!«, knurrte er. »Und das nächste Mal verbeugt ihr euch, wenn ihr an ihm vorbeigeht, verstanden?«
»Verbeugen?« Elinor wollte stehen bleiben, doch Mo zog sie rasch weiter.
»Aber so ein Schmierentheater kann man doch nicht ernst nehmen!«, schimpfte Elinor.
»Wenn du nicht bald still bist«, flüsterte Mo zurück, »wirst du zu spüren bekommen, wie ernst das hier alles gemeint ist, verstanden?«
Elinor musterte die Schramme auf seiner Stirn und schwieg.
Es gab keine Bänke in Capricorns Kirche, wie Meggie es aus anderen Kirchen kannte, nur zwei lange hölzerne Tische mit Sitzbänken zu beiden Seiten des Mittelgangs. Schmutzige Teller standen darauf, kaffeeverschmierte Becher, Holzbretter mit Käseresten, Messer, Würste, leere Brotkörbe. Mehrere Frauen waren gerade damit beschäftigt, alles fortzuräumen, sie blickten nur kurz auf, als Cockerell und Flachnase mit ihren drei Gefangenen vorbeigingen, dann beugten sie sich wieder über ihre Arbeit. Wie Vögel kamen sie Meggie vor, die ihre Köpfe zwischen die Schultern zogen, damit man sie ihnen nicht abschlug.
Nicht nur die Bänke fehlten in Capricorns Kirche, auch der Altar war verschwunden. Man konnte noch erkennen, wo er gestanden hatte. Stattdessen stand nun ein Stuhl am Ende der Treppe, die früher zum Altar hinaufgeführt hatte, ein wuchtiges Teil, rot gepolstert, mit wulstigen Schnitzereien an Beinen und Armlehnen. Vier flache Stufen waren es, die zu ihm hinaufführten, Meggie wusste selbst nicht, warum sie sie zählte. Ein schwarzer Teppich bedeckte sie - und auf der obersten Stufe, nur wenige Schritte von dem Stuhl entfernt, hockte Staubfinger, das rotblonde Haar zerzaust wie immer, und ließ Gwin gedankenverloren an seinem ausgestreckten Arm hinauflaufen.
Als Meggie mit Mo und Elinor den Mittelgang herunterkam, hob er kurz den Kopf. Gwin kletterte ihm auf die Schulter und entblößte seine kleinen, glassplitterscharfen Zähne, als hätte er bemerkt, mit welchem Abscheu Meggie seinen Herrn musterte. Nun wusste sie, warum der Marder Hörner hatte und sein Zwilling sich auf einer Buchseite spreizte. Alles wusste sie nun: warum Staubfinger diese Welt zu schnell und laut fand, warum er nichts von Autos verstand und oft so dreinblickte, als wäre er ganz woanders. Doch sie empfand kein Mitleid mit ihm, wie Mo es tat. Sein narbiges Gesicht erinnerte sie nur daran, dass er sie belogen hatte, mit sich gelockt wie der Rattenfänger im Märchen. Wie mit seinem Feuer hatte er mit ihr gespielt, wie mit seinen kleinen bunten Bällen: Komm mit, Meggie, hier entlang, Meggie, vertrau mir, Meggie. Am liebsten wäre sie die Stufen hinaufgesprungen und hätte ihm auf den Mund geschlagen, auf seinen verlogenen Mund.
Staubfinger schien ihre Gedanken zu erraten. Er wich ihrem Blick aus, auch Mo und Elinor sah er nicht an. Stattdessen griff er in die Hosentasche und holte ein Päckchen Streichhölzer hervor. Abwesend zog er ein Hölzchen aus der Schachtel, zündete es an, betrachtete gedankenversunken die Flamme und strich mit dem Finger hindurch, fast liebkosend, bis sie ihm die Fingerkuppen versengte.
Meggie wandte den Blick ab. Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte vergessen, dass er da war. Links von ihr, am Fuß der Treppe, standen zwei Eisentonnen, rostig braun, Holz war darin aufgeschichtet, helle, frisch geschlagene Scheite, einer über dem anderen. Meggie fragte sich gerade, wozu sie wohl bestimmt sein mochten, als erneut Schritte durch die Kirche hallten. Basta kam den Mittelgang herunter, mit einem Benzinkanister in der Hand. Cockerell und Flachnase machten mürrisch Platz, als er sich an ihnen vorbeischob.
»Ach, spielt der Schmutzfinger wieder mit seinem besten Freund?«, fragte er, während er die flachen Stufen hinaufstieg. Staubfinger ließ das Streichholz sinken und richtete sich auf. »Hier«, sagte Basta und stellte ihm den Benzinkanister vor die Füße. »Noch etwas zum Spielen. Mach uns Feuer. Das tust du doch am liebsten.«
Staubfinger warf das abgebrannte Streichholz, das er in der Hand hielt, fort und zündete ein neues an. »Und du?«, fragte er leise, während er Basta das brennende Hölzchen vors Gesicht hielt. »Du hast immer noch Angst davor, stimmt's?«
Basta schlug ihm das Streichholz aus der Hand.
»Oh, so etwas solltest du nicht tun!«, sagte Staubfinger. »Das bringt Unglück. Du weißt doch, wie schnell Feuer beleidigt ist.«
Für einen Augenblick dachte Meggie, Basta würde ihn schlagen, und offenbar war sie nicht die Einzige, die das dachte. Alle Augen waren auf die beiden gerichtet. Doch irgendetwas schien Staubfinger zu schützen. Vielleicht war es wirklich das Feuer.
»Du hast Glück, dass ich mein Messer gerade erst geputzt habe!«, zischte Basta. »Aber noch so ein Spiel und ich ritze dir ein paar nette neue Muster in dein hässliches Gesicht. Und aus deinem Marder lass ich mir einen Pelzkragen machen.«
Gwin ließ ein leises, drohendes Keckem hören und schmiegte sich an Staubfingers Nacken. Staubfinger bückte sich, hob die abgebrannten Streichhölzer auf und schob sie zurück in die Schachtel. »Ja, das würde dir sicher Spaß machen«, sagte er, immer noch ohne Basta anzusehen. »Wozu soll ich Feuer machen?«
»Wozu? Tu es einfach. Ums Füttern kümmern wir uns dann. Aber sorg dafür, dass es groß und gefräßig wird, nicht so zahm wie die Feuer, mit denen du gern spielst.«
Staubfinger hob den Kanister hoch und stieg langsam damit die Stufen hinunter. Er stand gerade vor den rostigen Tonnen, als das Kirchenportal sich ein zweites Mal öffnete.