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Robert L. Stevenson, Die Schatzinsel

So kam es, dass Meggie ihren Vater zum ersten Mal nach neun Jahren in einer Kirche lesen hörte, und noch viele Jahre später zog ihr, sobald sie eins der Bücher aufschlug, aus denen er an jenem Morgen vorlas, der Geruch von verbranntem Papier in die Nase.

Es war kühl in Capricorns Kirche, auch daran erinnerte Meggie sich später, obwohl die Sonne draußen sicherlich schon hoch und heiß am Himmel stand, als Mo zu lesen begann. Er setzte sich einfach dort, wo er stand, auf den Boden, die Beine gekreuzt, ein Buch auf dem Schoß, die anderen neben sich. Meggie kniete sich neben ihn, bevor Basta sie festhalten konnte.

»Los, auf die Treppe mit euch!«, befahl Capricorn seinen Männern. »Flachnase, du bringst die Frau mit. Nur Basta bleibt da, wo er ist.«

Elinor sträubte sich, doch Flachnase griff ihr einfach ins Haar und zerrte sie mit sich. Einer neben den anderen, so hockten sich Ca-pricorns Männer auf die Stufen zu Füßen ihres Herrn. Elinor saß zwischen ihnen wie eine aufgeplusterte Taube in einer Schar räuberischer Krähen.

Der Einzige, der ähnlich verloren aussah, war der magere Vorleser, der ganz am Ende der schwarzen Reihe Platz genommen hatte und immer noch unentwegt seine Brille betastete.

Mo schlug das Buch auf seinem Schoß auf und begann mit gerunzelter Stirn darin zu blättern, als suche er zwischen den Seiten nach dem Gold, das er Capricorn herauslesen sollte.

»Cockerell, du schneidest jedem die Zunge heraus, der auch nur einen Laut von sich gibt, während Zauberzunge liest!«, sagte Capricorn, und Cockerell zog ein Messer aus dem Gürtel und blickte an der Reihe der Männer entlang, als suchte er sich schon das erste Opfer aus. Totenstill wurde es in der rot getünchten Kirche, so still, dass Meggie glaubte, Basta hinter sich atmen zu hören. Aber vielleicht war das auch nur ihre Angst.

Capricorns Männer schienen sich, ihren Gesichtern nach zu urteilen, in ihrer Haut ebenfalls alles andere als wohl zu fühlen. Sie musterten Mo mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Furcht. Meggie konnte das nur zu gut verstehen. Vielleicht würde schon bald einer von ihnen in dem Buch verschwunden sein, in dem Mo so unschlüssig blätterte. Ob Capricorn ihnen erzählt hatte, dass so etwas passieren konnte? Ob er es überhaupt wusste? Was, wenn passierte, was Mo befürchtete: Dass sie selbst verschwand? Oder Elinor?

»Meggie!«, raunte Mo ihr zu, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Halte dich an mir fest, irgendwie, ja?«

Meggie nickte und klammerte sich mit einer Hand an seinen Pullover. Als könnte das nützen!

»Ich glaube, ich habe die richtige Stelle gefunden«, sagte Mo in die Stille hinein. Er warf Capricorn einen letzten Blick zu, sah noch einmal zu Elinor hinüber, räusperte sich - und begann.

Alles verschwand. Die roten Wände der Kirche, die Gesichter von Capricorns Männern und Capricorn selbst auf seinem Stuhl. Es gab nur noch Mos Stimme und die Bilder, die sich aus den Buchstaben formten wie ein Teppich auf dem Webstuhl. Hätte Meggie Capricorn noch mehr hassen können, dann hätte sie es jetzt getan. Schließlich war nur er schuld, dass Mo ihr all die Jahre nicht ein einziges Mal vorgelesen hatte. Was hätte er ihr alles ins Zimmer zaubern können mit seiner Stimme, die jedem Wort einen anderen Geschmack gab und jedem Satz eine Melodie! Selbst Cockerell hatte sein Messer vergessen und die Zungen, die er abschneiden sollte, und lauschte mit abwesendem Blick. Flachnase starrte so verzückt in die Luft, als kreuzte ein Piratenschiff mit geblähten Segeln geradewegs durch eins der Kirchenfenster. Alle schwiegen.

Kein Laut war zu hören außer Mos Stimme, die Buchstaben und Wörter zum Leben erweckte.

Nur einer schien immun gegen den Zauber. Mit ausdruckslosem Gesicht, die blassen Augen auf Mo gerichtet, saß Capricorn da und wartete: auf das Klirren von Münzen in all dem Wohlklang der Worte, auf Kisten aus feuchtem Holz, schwer von Gold und Silber.

Mo ließ ihn nicht lange warten. Während er las, was Jim Haw-kins, der Junge, der kaum älter als Meggie war, als er seine schrecklichen Abenteuer erlebte, in einer dunklen Höhle sah, passierte es:

Goldstücke, die die Köpfe von George oder einem der Louis trugen, Dublonen, doppelte Guineen, Moidore und Zechinen, die Köpfe sämtlicher Könige von Europa im Verlauf der letzten hundert Jahre, seltsame orientalische Goldstücke, deren Schrift wie ein Gewirr von Fäden oder wie ein Stück von einem Spinnennetz aussah, runde Stücke, viereckige Stücke, Stücke, die in der Mitte durchbohrt waren, als hätte man sie um den Hals getragen - so ziemlich jede Art von gemünztem Gold musste in dieser Sammlung ihren Platz gefunden haben; und an der Zahl waren sie wie Blätter im Herbst, sodass mein Rücken wehtat, so viel musste ich mich bücken, und meine Finger vom Aussondern schmerzten.

Die Mägde waren noch dabei, die letzten Krümel von den Tischen zu wischen, als über das blanke Holz plötzlich Münzen rollten. Die Frauen stolperten zurück, ließen die Tücher fallen, pressten die Hände vor den Mund, während die Münzen ihnen zwischen die Füße sprangen, goldene, silberne, kupferfarbene Münzen, sie klimperten auf den Steinboden, häuften sich klirrend unter den Bänken, mehr und immer mehr. Einige rollten bis vor die Treppenstufen. Capricorns Männer fuhren hoch, bückten sich nach den glitzernden Dingern, die ihnen gegen die Stiefel sprangen -und zogen die Hände wieder zurück. Keiner von ihnen traute sich, das verhexte Geld anzufassen. Denn was sonst war es? Gold, gemacht aus Papier und Druckerschwärze - und dem Klang einer menschlichen Stimme.

Als der Goldregen aufhörte - im selben Moment, in dem Mo das Buch zuklappte -, sah Meggie, dass sich in all das Glitzern und Glänzen auch hier und da etwas Sand gemischt hatte. Ein paar bläulich schimmernde Käfer krabbelten hastig davon, und aus einem Berg von winzig kleinen Münzen schob sich der Kopf einer smaragdgrünen Eidechse. Mit starren Augen sah sie sich um. Die Zunge tanzte ihr vor dem eckigen Maul. Basta warf sein Messer nach ihr, als könnte er mit der Eidechse die Furcht aufspießen, die sie alle ergriffen hatte, doch Meggie stieß einen Warnruf aus und die Eidechse huschte so schnell davon, dass die Klinge sich die scharfe Nase an den Steinen stieß. Basta sprang hin, hob sein Messer auf und deutete mit der Spitze drohend in Meggies Richtung.

Capricorn aber erhob sich von seinem Stuhl, das Gesicht immer noch so ausdruckslos, als sei nichts geschehen, das einer Regung wert wäre, und klatschte gönnerhaft in die beringten Hände.

»Nicht schlecht für den Anfang, Zauberzunge!«, sagte er. »Sieh es dir an, Darius! So sieht Gold aus, nicht wie der rostige, verbogene Plunder, den du mir hergelesen hast. Aber nun hast du ja gehört, wie man es macht, ich hoffe, du hast daraus etwas gelernt, für den Fall, dass ich deine Dienste doch noch mal brauchen sollte.«

Darius antwortete nicht. Seine Augen hingen so bewundernd an Mo, dass es Meggie nicht überrascht hätte, wenn er sich ihrem Vater zu Füßen geworfen hätte. Als Mo sich aufrichtete, ging er zögernd auf ihn zu.

Capricorns Männer standen immer noch da und starrten das Gold an, als wüssten sie nicht, was nun damit geschehen sollte.

»Was steht ihr da und glotzt wie Kühe auf der Weide?«, rief Capricorn. »Sammelt es ein.«

»Das war wunderbar!«, raunte Darius Mo zu, während Capricorns Männer widerstrebend damit begannen, die Münzen in Säcke und Kisten zu schaufeln. Die Augen hinter seiner Brille glänzten wie die eines Kindes, dem jemand ein lang ersehntes Geschenk gemacht hat. »Ich habe dieses Buch schon viele Male gelesen«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Doch noch nie habe ich alles so deutlich gesehen wie heute. Und nicht nur gesehen ... gerochen habe ich es, das Salz und den Teer und den modrigen Geruch, der über der verteufelten Insel hängt. «

»Die Schutzinsel! Himmel, ich habe mir fast in die Hosen gemacht vor Angst!« Elinor tauchte hinter Darius auf und schob ihn unsanft zur Seite. Flachnase hatte sie offenbar fürs Erste vergessen. »Gleich ist er da, habe ich immer nur gedacht, gleich ist der alte Silver da und schlägt uns seine Krücke um die Ohren.«