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Als Elinor den Motor anließ, zerrte er sich die Flinte vom Rücken und stolperte auf ihr Auto zu. Für einen Moment tat er Meggie fast Leid, so verdutzt und verschlafen sah er aus. Was würde Capricorn mit einem Wachtposten machen, der schlief statt aufzupassen? Doch dann legte er die Flinte an und schoss. Meggie duckte den Kopf tief hinter die Lehne des Rücksitzes, während Eli-nor Gas gab. »Verdammt!«, schrie sie Staubfinger an. »Haben Sie den Kerl denn nicht gesehen, als Sie zwischen den Autos herumgeschlichen sind?«

»Nein, habe ich nicht!«, schrie Staubfinger zurück. »Und jetzt fahren Sie! Nicht den Weg! Der da vorn führt zur Straße!«

Elinor riss das Steuer herum. Neben Meggie duckte sich der Junge zusammen. Bei jedem Schuss hatte er die Augen zugekniffen und sich die Hände auf die Ohren gepresst. Gab es Gewehre in seiner Geschichte? Wahrscheinlich ebenso wenig wie Autos. Er und Meggie stießen mit den Köpfen gegeneinander, so heftig holperte Elinors Wagen den steinigen Weg hinunter. Als er endlich in die Straße mündete, wurde es kaum besser.

»Das ist nicht die Straße, auf der wir gekommen sind!«, rief Elinor. Capricorns Dorf hing über ihnen wie eine Festung. Die Häuser schienen einfach nicht kleiner zu werden.

»Doch, es ist dieselbe! Aber Basta hat uns bei unserer Ankunft schon weiter oben empfangen!« Staubfinger klammerte sich mit der einen Hand an den Sitz und hielt mit der anderen seinen Rucksack fest. Ein wütendes Knurren war daraus zu hören und der Junge warf dem Sack einen entsetzten Blick zu.

Meggie glaubte die Stelle, an der sie Basta getroffen hatten, zu erkennen, als sie daran vorbeifuhren, den Hügel, von dem aus sie das Dorf zum ersten Mal gesehen hatte. Dann waren die Häuser plötzlich verschwunden, verschluckt von der Nacht, als hätte es Capricorns Dorf nie gegeben.

An der Brücke stand keine Wache, und auch bei dem rostigen Gitter nicht, das die Straße zum Dorf versperrte. Meggie blickte zu ihm zurück, bis die Dunkelheit es verschluckte. Es ist vorbei, dachte sie. Es ist wirklich vorbei.

Die Nacht war klar. Noch nie hatte Meggie so viele Sterne gesehen. Der Himmel spannte sich über den schwarzen Hügeln wie ein mit winzigen Perlen besticktes Tuch. Die ganze Welt schien nur noch aus Hügeln zu bestehen, Katzenbuckel vor dem Gesicht der Nacht, ohne Menschen, ohne Häuser. Ohne Angst.

Mo drehte sich um und strich Meggie das Haar aus der Stirn. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte und schloss die Augen. Sie wollte plötzlich nur noch schlafen ... falls ihr klopfendes Herz sie ließ.

»Das ist ein Traum!«, murmelte jemand neben ihr mit monotoner Stimme. »Nichts als ein Traum. Was sonst?«

Meggie drehte sich um. Der Junge sah sie nicht an. »Es muss ein Traum sein!«, wiederholte er und nickte dabei so heftig, als wollte er sich selbst Mut machen. »Alles sieht falsch aus, unecht, vollkommen verrückt, so wie in Träumen eben, und jetzt« - er wies mit einer Kopfbewegung nach draußen - »jetzt fliegen wir auch noch. Oder die Nacht fliegt an uns vorbei. Oder was auch immer.«

Meggie hätte fast gelächelt. »Das ist kein Traum«, wollte sie sagen, aber sie war einfach zu müde, um die ganze komplizierte Geschichte zu erklären. Sie sah zu Staubfinger hinüber. Er strich über den Stoff seines Rucksacks, wahrscheinlich versuchte er seinen zornigen Marder auf die Weise zu beruhigen. »Sieh mich nicht so an!«, sagte er, als er Meggies Blick bemerkte. »Ich werd es ihm nicht erklären. Das muss schon dein Vater tun. Schließlich ist er für seinen schlimmen Traum verantwortlich.«

Mo stand das schlechte Gewissen auf die Stirn geschrieben, als er sich zu dem Jungen umwandte. »Wie heißt du?«, fragte er. »Dein Name stand nicht in der ...« Er brach ab.

Der Junge sah ihn misstrauisch an, dann senkte er den Kopf.

»Farid«, antwortete er mit tonloser Stimme. »Mein Name ist Fa-rid, aber ich glaube, es bringt Unglück, in einem Traum zu sprechen. Man findet nicht wieder zurück.« Und schon presste er die Lippen zusammen, starrte geradeaus, als wollte er vermeiden, irgendjemanden anzusehen, und schwieg. Hatte er in seiner Geschichte Eltern gehabt? Meggie konnte sich nicht erinnern. Da war nur die Rede von einem Jungen gewesen, einem namenlosen Jungen, der einer Bande Räuber diente.

»Es ist ein Traum!«, flüsterte er wieder. »Nur ein Traum. Die Sonne wird aufgehen und alles wird verschwinden. Ja.«

Mo musterte ihn, unglücklich und ratlos, wie jemand, der ein Vogeljunges angefasst hat und nun zusehen muss, wie die Eltern es dafür verstoßen. Armer Mo, dachte Meggie. Armer Farid. Aber da war noch ein anderer Gedanke, einer, für den sie sich schämte. Er war da, seit in Capricorns Kirche die Eidechse aus den goldenen Münzen gekrochen war. »Ich möchte es auch können«, flüsterte es seither, ganz leise, aber immer wieder. Wie ein Kuckuck hatte sich der Wunsch in ihrem Herzen eingenistet, machte sich breit und plusterte sich auf, sosehr sie auch versuchte, ihn wieder fortzustoßen. »Ich möchte es auch können«, flüsterte er. »Ich möchte sie herauslocken können, sie anfassen können, all die Figuren, all die wunderbaren Figuren, ich will, dass sie aus den Seiten schlüpfen und neben mir sitzen, ich will, dass sie mich anlächeln, ich will, ich will, ich will ...«

Draußen war es immer noch so dunkel, als gäbe es kein Morgen.

»Ich werde durchfahren!«, sagte Elinor. »Ich werde fahren, bis wir wieder vor meinem Haus stehen.«

Da tauchten weit hinter ihnen Scheinwerfer auf, wie Finger, die sich durch die Nacht tasteten.

Schlangen und Dornen

Die Borribles drehten sich um, und da, gerade am Beginn der Brücke, sahen sie einen grellen Kreis weißen Lichts, der sich an der Unterseite des dunklen Himmels brach. Die Scheinwerfer eines Autos waren es, das sich auf der Nordseite der Brücke in Position begab, der Seite, welche die Flüchtlinge erst vor Minuten verlassen hatten.

Michael de Larrabeiti, Die Borribles 2 -Im Labyrinth der Wendeis

Die Scheinwerfer kamen näher, so entschlossen Elinor auch auf das Gaspedal trat.

»Vielleicht ist es nur irgendein Auto!«, sagte Meggie, aber sie wusste selbst, dass das mehr als unwahrscheinlich war. Es lag nur ein Dorf an der holprigen, schlaglochübersäten Straße, der sie seit fast einer Stunde folgten, und das war Capricorns Dorf. Nur von dort konnten ihre Verfolger kommen.

»Und was nun?«, rief Elinor. Sie fuhr Schlangenlinien vor Aufregung. »Ich lasse mich nicht noch einmal in dieses Loch sperren. Nein. Nein. Nein.« Bei jedem Nein schlug sie mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten ihnen die Reifen zerstochen?«, fuhr sie Staubfinger an.

»Allerdings!«, gab er wütend zurück. »Offenbar hatten sie für solche Fälle vorgesorgt, oder haben Sie noch nie was von Ersatzreifen gehört? Geben Sie Gas! Es müsste bald ein Ort kommen. Es kann nicht mehr weit sein. Wenn wir es bis dahin schaffen ...«

»Wenn, ja, wenn!«, rief Elinor und klopfte mit dem Finger gegen die Tankanzeige. »Das Benzin reicht höchstens noch für zehn, vielleicht zwanzig Kilometer.«

So weit kamen sie nicht einmal. In einer scharfen Kurve platzte einer der Vorderreifen. Elinor konnte gerade noch das Steuer herumreißen, bevor der Wagen von der Straße schlitterte. Meggie schrie auf und presste die Hände vors Gesicht. Für einen schrecklichen Moment dachte sie, sie würden den steilen Abhang hinabstürzen, der sich links von der Straße in der Dunkelheit verlor, doch der Kombi schlitterte nach rechts, schrammte mit dem Kotflügel die Mauer aus Feldsteinen, die, kaum kniehoch, die andere Straßenseite säumte, tat einen letzten Seufzer und blieb stehen, unter den herabhängenden Zweigen einer Steineiche, die sich über die Straße beugte, als wollte sie mit den Ästen den Asphalt berühren.