»Was für Füße?«, fragte Elinor und ließ sich stöhnend auf den Boden sinken. »Meinst du die schmerzenden Klumpen am Ende meiner Beine?«
»Genau die«, sagte Mo, während er sie wieder auf die Füße zog. »Aber ein paar Schritte müssen sie noch hinter sich bringen. Wir rasten da drüben.«
Gut fünfzig Meter zu ihrer Linken, ganz oben auf dem Hügel, duckte sich ein Haus zwischen den Olivenbäumen, wenn man es ein Haus nennen wollte. Meggie rutschte von Mos Rücken, bevor sie hinaufstiegen. Die Mauern sahen aus, als hätte jemand eilig ein paar Steine aufgeschichtet, das Dach war eingestürzt und dort, wo früher eine Tür gehangen hatte, gähnte ein schwarzes Loch.
Mo musste sich tief bücken, als er sich hindurchschob. Zerbrochene Dachschindeln bedeckten den Boden, in einer Ecke lagen ein leerer Sack, Tonscherben, vielleicht von einem Teller oder einer Schüssel, und ein paar Knochen, säuberlich abgenagt ...
Mo seufzte. »Kein sehr gemütlicher Ort, Meggie«, sagte er. »Aber stell dir einfach vor, du wärst im Versteck der Verlorenen Jungs oder ...«
». im Fass von Huckleberry Finn.« Meggie sah sich um. »Ich glaube, ich schlaf trotzdem lieber draußen.«
Elinor kam herein. Ihr schien die Unterkunft auch nicht sonderlich zu gefallen.
Mo gab Meggie einen Kuss und ging wieder zur Tür. »Glaub mir, hier drinnen ist es sicherer!«, sagte er.
Meggie sah ihm beunruhigt nach. »Wo gehst du hin? Du musst doch auch schlafen.«
»Ach was, ich bin nicht müde.« Sein Gesicht strafte ihn Lügen. »Schlaf jetzt, ja?« Dann verschwand er nach draußen.
Elinor schob mit dem Fuß die zerbrochenen Schindeln zur Seite. »Komm!«, sagte sie, zog ihre Jacke aus und breitete sie auf dem Boden aus. »Wir versuchen, es uns zusammen gemütlich zu machen. Dein Vater hat Recht, wir stellen uns einfach vor, wir wären ganz woanders. Warum machen Abenteuer beim Lesen nur so viel mehr Spaß?«, murmelte sie, während sie sich auf dem Boden ausstreckte.
Meggie legte sich zögernd neben sie. »Immerhin regnet es nicht«, stellte Elinor mit einem Blick auf das eingestürzte Dach fest. »Und wir haben die Sterne über uns, auch wenn sie schon sehr blass sind. Vielleicht sollte ich mir zu Hause auch ein paar Löcher ins Dach klopfen lassen.« Mit einem ungeduldigen Nicken forderte sie Meggie auf, den Kopf auf ihren Arm zu legen. »Damit dir die Spinnen nicht beim Schlafen in die Ohren kriechen«, sagte sie und schloss die Augen. »Herrgott«, hörte Meggie sie noch murmeln. »Ich glaube, ich muss mir ein Paar neue Füße kaufen. Diese sind nicht zu retten.« Dann war sie eingeschlafen.
Meggie aber lag mit weit offenen Augen da und lauschte nach draußen. Sie hörte, wie Mo sich leise mit Staubfinger unterhielt, worüber, konnte sie nicht verstehen. Einmal glaubte sie Bastas Namen zu hören. Der Junge war auch draußen geblieben. Farid. Aber von ihm war kein Ton zu hören.
Elinor begann schon nach ein paar Minuten zu schnarchen. Doch Meggie konnte nicht schlafen, sosehr sie es auch versuchte, und so stand sie schließlich leise auf und schlich wieder nach draußen. Mo war wach. Er saß da, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, und sah zu, wie über den umliegenden Hügeln der Morgen die Nacht vertrieb. Ein paar Schritte entfernt saß Staubfinger. Er hob nur kurz den Kopf, als Meggie aus der Hütte kam. Ob er an die Feen dachte und an die Kobolde? Farid lag neben ihm, zusammengerollt wie ein Hund, und Gwin hockte zu seinen Füßen und fraß etwas, Meggie wandte schnell den Kopf ab.
Die Dämmerung zog über die Hügel, sie eroberte eine Kuppe nach der anderen. Meggie entdeckte Häuser in der Ferne, verstreut wie Spielzeug auf den grünen Hängen. Irgendwo dahinter musste das Meer liegen. Sie legte den Kopf auf Mos Schoß und sah hinauf in sein Gesicht.
»Hier finden sie uns nicht mehr, oder?«, fragte sie.
»Nein, bestimmt nicht!«, sagte er, doch sein Gesicht war nicht halb so unbekümmert wie seine Stimme. »Warum schläfst du nicht bei Elinor?«
»Sie schnarcht«, murmelte Meggie.
Mo lächelte. Dann blickte er mit gerunzelter Stirn wieder den Hang hinab, dorthin, wo, verborgen von Zistrosen, Ginster und hohem Gras, der Weg lag, der sie hergeführt hatte.
Auch Staubfinger ließ den Weg nicht aus den Augen. Der Anblick der beiden wachenden Männer beruhigte Meggie, und bald schlief sie ebenso tief wie Farid - als wäre die Erde vor dem verfallenen Haus nicht mit Dornen, sondern mit Daunenfedern bedeckt. Und sie hielt es zunächst nur für einen bösen Traum, als Mo sie wachrüttelte und ihr die Hand auf den Mund presste.
Warnend legte er einen Finger an die Lippen. Meggie hörte Gras rascheln, das Jaulen eines Hundes. Mo zog sie auf die Füße und schob sie und Farid in das schützende Dunkel der Hütte. Elinor schnarchte immer noch. Sie sah aus wie ein junges Mädchen in dem Licht, das der aufziehende Morgen ihr aufs Gesicht goss, aber sobald Mo sie geweckt hatte, war alles wieder da, die Müdigkeit, die Sorgen und die Furcht.
Mo und Staubfinger stellten sich neben die Türöffnung, der eine links, der andere rechts, den Rücken gegen die Mauer gepresst. Männerstimmen drangen durch die morgendliche Stille. Meggie glaubte die Hunde schnüffeln zu hören und sie wollte sich in Luft auflösen, in nichts als geruchlose, unsichtbare Luft. Farid stand neben ihr, die Augen weit aufgerissen. Meggie bemerkte zum ersten Mal, dass sie fast schwarz waren. Noch nie hatte sie so dunkle Augen gesehen, die Wimpern lang wie die eines Mädchens.
Elinor lehnte gegenüber an der Wand, sie zerbiss sich die Lippen vor Angst. Staubfinger gab Mo ein Zeichen, und bevor Meggie begriff, was die beiden vorhatten, schoben sie sich nach draußen. Die Olivenbäume, hinter denen sie sich versteckten, waren kurzstämmig, mit verfilzten Zweigen, die bis auf die Erde hingen, als würde ihnen die Last der Blätter zu viel. Ein Kind hätte sich leicht dahinter verbergen können, aber boten sie auch Schutz genug für zwei erwachsene Männer?
Meggie lugte aus der Türöffnung. Sie erstickte fast an ihrem eigenen Herzschlag. Draußen stieg die Sonne immer höher. In jedes Tal, unter jeden Baum drang das Tageslicht, und plötzlich wünschte Meggie sich die Nacht zurück. Mo war in die Knie gegangen, damit man seinen Kopf nicht über dem Gewirr der Zweige sah. Staubfinger presste sich dicht an den krummen Stamm und da, schrecklich nah, höchstens zwanzig Schritte entfernt von den beiden, stand Basta. Durch Disteln und kniehohes Gras schob er sich den Hang hinauf.
»Die sind längst unten im Tal!«, hörte Meggie eine mürrische Stimme rufen, und im nächsten Moment tauchte Flachnase neben Basta auf. Sie hatten zwei übel aussehende Hunde mitgebracht. Meggie sah, wie sie die breiten Schädel schnuppernd durch das Gras stießen.
»Mit den beiden Kindern und der Dicken?« Basta schüttelte den Kopf und sah sich um. Farid lugte an Meggie vorbei - und fuhr zurück, als hätte ihn etwas gebissen, als er die beiden Männer sah.
»Basta?« Elinors Lippen formten lautlos seinen Namen. Meggie nickte, und Elinor wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war.
»Verflucht, Basta, wie lange willst du noch hier herumstapfen?« Flachnases Stimme schallte weit in der Stille, die über den Hügeln lag. »Die Schlangen werden bald munter und ich habe Hunger. Lass uns einfach erzählen, dass sie mit dem Auto ins Tal gestürzt sind. Wir geben dem Ding noch einen Schubs, und schon wird keiner die kleine Lüge merken! Wahrscheinlich erledigen die Schlangen sie sowieso. Und wenn nicht, dann verirren sie sich, verhungern, fangen sich einen Sonnenstich ein, was weiß ich. Auf jeden Fall werden wir sie nie wiedersehen.«
»Er hat ihnen Käse gegeben!« Basta zerrte die Hunde wütend an seine Seite. »Der verfluchte Feuerfresser hat sie mit Käse gefüttert, um ihre Nasen zu ruinieren. Aber mir wollte ja keiner glauben. Kein Wunder, dass sie jedes Mal winseln vor Freude, wenn sie sein hässliches Gesicht sehen.«
»Du schlägst sie zu viel!«, brummte Flachnase. »Deshalb geben sie sich keine Mühe. Hunde mögen es nicht, wenn man sie schlägt.«