Meggie schüttelte den Kopf.
Mo seufzte und nahm sich eine. »Fenoglio ist der Mann, der Tintenherz geschrieben hat«, sagte er. »Es könnte sein, dass er noch ein paar Exemplare besitzt. Es ist sogar mehr als wahrscheinlich.«
»Ach was!«, sagte Meggie verächtlich. »Capricorn hat sie bestimmt längst gestohlen! Er hat sie alle gestohlen, das hast du doch gesehen!«
Aber Mo schüttelte den Kopf. »Ich glaube, an Fenoglio hat er nicht gedacht. Weißt du, mit Schriftstellern ist es eine merkwürdige Sache. Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, dass Bücher von Menschen geschrieben werden, die nicht anders sind als sie. Von Schriftstellern nimmt man an, dass sie längst tot sind, aber bestimmt nicht, dass sie einem auf der Straße begegnen oder beim Einkaufen. Man kennt ihre Geschichten, aber ihren Namen kennt man nicht und schon gar nicht ihr Gesicht. Und die meisten Schriftsteller mögen das - du hast es ja von Elinor gehört, es war ziemlich schwierig, Fenoglios Adresse herauszufinden. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Capricorn nichts davon ahnt dass sein Erfinder kaum zwei Stunden entfernt von ihm lebt.«
Meggie war sich da nicht so sicher. Nachdenklich legte sie die Tischdecke in Falten und zog den blassgelben Stoff wieder auseinander. »Ich würde trotzdem lieber zu Elinor fahren«, sagte sie. »Das Buch -«, sie stockte, aber dann sprach sie es doch aus »- ich versteh nicht, warum du es unbedingt haben willst. Es nützt doch sowieso nichts.« Sie ist fort, fügte sie in Gedanken hinzu, du hast doch versucht, sie zurückzuholen, aber es geht nicht. Lass uns nach Hause fahren.
Mo nahm sich noch eine von ihren Erdbeeren, die allerkleinste. »Die kleinsten sind immer am süßesten«, sagte er, während er sie sich in den Mund schob. »Deine Mutter liebte Erdbeeren. Sie konnte nicht genug davon bekommen, und sie hat immer fürchterlich geschimpft, wenn es im Frühling so sehr regnete, dass sie ihr auf dem Beet verschimmelten.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während er wieder aus dem Fenster sah. »Nur dieser eine Versuch noch, Meggie«, sagte er. »Nur dieser eine noch. Und übermorgen fahren wir zu Elinor. Ich versprech es dir.«
Eine Nacht voller Wörter
Welches Kind hätte nicht gemeint, wenn es in einer lauen Sommernacht nicht einschlafen konnte, Peter Pans Segelschiff am Himmel zu sehen?
Ich will dir beibringen, dieses Schiff zu sehen.
Roberto Cotroneo, Wenn ein Kind an einem Sommermorgen
Meggie blieb im Hotel, als Mo sich auf den Weg zu der Leihwagenfirma machte, bei der er ein Auto bestellt hatte. Sie schob sich einen Stuhl auf den Balkon, blickte über das weiß lackierte Geländer aufs Meer hinaus, das wie blaues Glas hinter den Häusern schimmerte, und versuchte an nichts zu denken, einfach an gar nichts. Der Autolärm, der zu ihr heraufdrang, war so laut, dass sie Elinors Klopfen fast überhörte.
Sie ging schon wieder den Flur hinunter, als Meggie die Tür aufriss. »Ach, du bist doch da«, sagte Elinor und kam mit verlegener Miene zurück. Sie verbarg irgendetwas hinter dem Rücken.
»Ja, Mo holt den Mietwagen ab.«
»Ich habe etwas für dich, zum Abschied.« Elinor zog ein flaches Päckchen hinter dem Rücken hervor. »Es war nicht leicht, ein Buch ohne Bösewichter zu finden, aber ich wollte unbedingt eins, aus dem dein Vater dir vorlesen kann, ohne Schaden anzurichten. Ich denke, bei diesem kann nichts passieren.«
Meggie schlug das geblümte Papier auseinander. Auf dem Buchumschlag waren zwei Kinder und ein Hund zu sehen, sie knieten auf einem schmalen Stück Fels oder Stein und blickten besorgt in den Abgrund, der unter ihnen gähnte.
»Es sind Gedichte«, erklärte Elinor. »Weiß nicht, ob du so was magst, aber ich dachte, wenn dein Vater sie vorliest, klingen sie bestimmt wundervoll.«
Meggie schlug das Buch auf. Sie las: ... Ich wisch nie meinen Schatten aus, so lang ich ihn auch hab. Die Worte wehten ihr wie eine kleine Melodie aus den Seiten entgegen. Behutsam klappte sie das Buch wieder zu.
»Danke, Elinor«, sagte sie. »Ich hab ... leider überhaupt nichts für dich.«
»Tja, da hab ich dann wohl was gut!«, sagte Elinor und zog aus ihrer neu erstandenen Handtasche noch ein Päckchen. »Was soll ein Bücherfresser wie du mit einem Buch?«, sagte sie. »Aber das hier liest du besser allein. Da stecken jede Menge Bösewichter drin. Trotzdem denke ich, dass es dir gefallen wird. Schließlich geht in der Fremde nichts über ein paar tröstende Buchseiten, stimmt's?«
Meggie nickte. »Mo hat mir versprochen, dass wir schon übermorgen nachkommen«, sagte sie. »Du verabschiedest dich doch auch noch von ihm, bevor du losfährst, oder?« Sie legte Elinors erstes Geschenk auf die Kommode neben der Tür und packte das zweite aus. Es war ein dickes Buch, das war gut.
»Ach was! Mach du das für mich!«, sagte Elinor. »Ich bin nicht gut im Abschiednehmen. Außerdem sehen wir uns ja bald wieder - und dass er auf dich aufpassen soll, hab ich ihm schon gesagt. Lass die Bücher nie offen liegen«, sagte sie noch, bevor sie sich umdrehte. »Das bricht ihnen den Rücken. Aber das hat dein Vater dir bestimmt auch schon tausendmal erzählt.«
»Öfter«, sagte Meggie, doch Elinor war schon verschwunden.
Wenig später hörte Meggie, wie jemand seinen Koffer zum Aufzug schleifte, aber sie ging nicht auf den Flur hinaus, um nachzusehen, ob es Elinor war. Sie mochte auch keine Abschiede.
Den Rest des Tages war Meggie sehr schweigsam. Am späten Nachmittag ging Mo mit ihr essen, in einem kleinen Restaurant, nur wenige Straßenecken entfernt. Es dämmerte schon, als sie wieder herauskamen, und draußen drängten sich die Menschen auf den dunkler werdenden Straßen. Auf einem Platz war das Gedränge besonders dicht, und als Meggie sich mit Mo durch die Menge schob, sah sie, dass die Leute sich um einen Feuerspucker drängten.
Es war ganz still, als Staubfinger die brennende Fackel an seinen nackten Armen lecken ließ. Während er sich verbeugte und die Zuschauer klatschten, ging Farid herum und hielt ihnen eine kleine Silberschale hin. Die Schale war das Einzige, was nicht so ganz an diesen Ort zu passen schien. Farid jedoch sah nicht viel anders aus als die Jungen, die unten am Strand herumlungerten und sich jedes Mal anstießen, wenn ein Mädchen vorbeikam. Seine Haut war vielleicht etwas dunkler und sein Haar noch etwas schwärzer, doch sicherlich wäre niemand bei seinem Anblick auf die Idee gekommen, dass er aus einer Geschichte geschlüpft war, in der Teppiche fliegen, Berge sich öffnen und Lampen Wünsche erfüllen konnten. Er trug nicht mehr sein blaues, fußlanges Gewand, sondern Hose und T-Shirt. Er sah älter aus darin. Staubfinger musste ihm beides gekauft haben, ebenso wie die Schuhe, in denen er so vorsichtig auftrat, als hätten sich seine Füße noch nicht ganz an sie gewöhnt. Als er Meggie im Gedränge entdeckte, nickte er ihr verlegen zu und ging dann rasch weiter.
Staubfinger spuckte noch einen letzten Feuerball in die Luft, dessen Größe selbst die mutigsten Zuschauer zurückstolpern ließ dann legte er die Fackeln weg und griff nach seinen Bällen. Er warf sie so hoch, dass die Leute den Kopf in den Nacken legten, fing sie auf und stieß sie mit dem Knie wieder in die Höhe. Die Arme rollten sie ihm hinauf wie von unsichtbaren Fäden gezogen, tauchten hinter seinem Rücken auf, als hätte er sie aus der leeren Luft gepflückt, sprangen ihm gegen die Stirn, gegen sein Kinn, so leicht, so schwerelos, tanzende kleine Dinger ... alles schien leicht zu werden, ohne Gewicht, nur ein schönes Spiel - wenn da nicht Staubfingers Gesicht gewesen wäre. Es blieb ernst hinter den wirbelnden Bällen, als hätte es nichts mit den tanzenden Händen zu tun, nichts mit ihrer Kunstfertigkeit, nichts mit ihrer sorglosen Leichtigkeit. Meggie fragte sich, ob ihn seine Finger noch schmerzten. Sie sahen immer noch gerötet aus, aber vielleicht war das auch nur der Schein des Feuers.