Выбрать главу

»Capricorn hat gesagt, es gab Kobolde und Riesen«, sagte Meggie leise.

Staubfinger musterte sie nachdenklich. »Ja, die gab es«, sagte er. »Kobolde, Moosweibchen, Glasleute ... Capricorn mochte sie alle ohne Ausnahme nicht besonders. Er hätte sie am liebsten alle umgebracht. Er hat sie jagen lassen, er hat alles gejagt, was davonlaufen konnte.«

»Es muss eine gefährliche Welt sein.« Meggie versuchte sie sich vorzustellen, die Riesen, die Kobolde - und die Feen. Mo hatte ihr mal ein Buch über Feen geschenkt.

Staubfinger zuckte die Achseln. »Ja, sie ist gefährlich, und? Die hier ist auch gefährlich, oder?« Abrupt drehte er Meggie den Rücken zu, ging zu seinem Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Dann winkte er dem Jungen. Farid hob die Tasche mit den Bällen und Fackeln hoch und schleppte sie ihm eilfertig nach. Staubfinger kam noch einmal auf Mo zu.

»Untersteh dich und erzähl diesem Mann von mir!«, sagte er. »Ich will ihn nicht sehen. Ich werde beim Auto warten. Ich will nur wissen, ob er noch ein Buch hat, verstanden? Denn an das von Capricorn komme ich ja doch nie dran.«

Mo zuckte die Achseln. »Wie du willst.«

Staubfinger betrachtete seine geröteten Finger und strich über die gespannte Haut. »Womöglich würde er mir noch erzählen, wie meine Geschichte ausgeht«, murmelte er.

Ungläubig sah Meggie ihn an. »Das weißt du nicht?«

Staubfinger lächelte. Meggie mochte sein Lächeln immer noch nicht. Es schien nur dazu da, etwas zu verbergen. »Was ist daran so Besonderes, Prinzessin?«, fragte er mit leiser Stimme. »Weißt du etwa, wie deine Geschichte ausgeht?«

Darauf wusste Meggie keine Antwort.

Staubfinger zwinkerte ihr zu und drehte sich um. »Ich bin morgen früh am Hotel!«, sagte er noch.

Dann ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon. Farid folgte ihm mit der schweren Tasche, so glücklich wie ein streunender Hund, der endlich einen Herrn gefunden hat.

In dieser Nacht hing der Mond voll und orangerot wie eine Frucht am Himmel. Mo zog die Vorhänge auf, bevor sie zu Bett gingen, damit sie ihn sehen konnten: ein bunter Lampion zwischen all den weißen Sternen.

Sie konnten beide nicht schlafen. Mo hatte sich ein paar Taschenbücher gekauft, sie sahen so abgegriffen aus, als wären sie schon durch viele Hände gegangen. Meggie las in dem Buch mit den Bösewichtern, das Elinor ihr geschenkt hatte. Es gefiel ihr, aber irgendwann fielen ihr vor Müdigkeit die Augen zu. Sie schlief schnell ein, mit Mo an ihrer Seite, der las und las, während draußen der orangefarbene Mond am fremden Himmel hing.

Als sie irgendwann aus einem wirren Traum hochschreckte, saß Mo immer noch aufrecht im Bett, das aufgeschlagene Buch in der Hand. Der Mond war längst weitergewandert, und durch das Fenster war nichts als die Nacht zu sehen.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Meggie und setzte sich auf.

»Ach. Dieser dumme Hund hat mich in den linken Arm gebissen, und du weißt ja, das ist nun mal genau die Seite, auf der ich am besten einschlafe. Außerdem geht mir einfach zu viel im Kopf herum.«

»Mir geht auch viel im Kopf herum.« Meggie nahm das Buch mit den Gedichten vom Nachttisch, das Elinor ihr geschenkt hatte. Sie strich über den Einband, fuhr mit der Hand über den gewölbten Rücken und zog mit dem Zeigefinger die Buchstaben auf dem Umschlag nach. »Weißt du was, Mo?«, sagte sie zögernd. »Ich glaub, ich würde es auch gern können.«

»Was?«

Meggie strich noch einmal über den Einband des Buches. Sie glaubte es flüstern zu hören. Ganz leise. »So zu lesen«, sagte sie. »So zu lesen wie du. So, dass alles lebendig wird.«

Mo sah sie an. »Du bist verrückt!«, sagte er. »All der Ärger, den wir haben, kommt nur davon.«

»Ich weiß.«

Mo klappte sein Buch zu, den Finger zwischen den Seiten.

»Lies mir etwas vor, Mo!«, sagte Meggie leise. »Bitte. Nur einmal.« Sie schob ihm das Buch mit den Gedichten hin. »Elinor hat mir das hier geschenkt. Sie sagt, dabei könnte nicht viel passieren.«

»So? Hat sie das?« Mo schlug das Buch auf. »Und was, wenn doch?« Er blätterte in den glatten Seiten.

Meggie schob ihr Kissen ganz dicht neben seins.

»Hast du wirklich eine Idee, wie du Staubfinger vielleicht doch zurücklesen kannst? Oder hast du ihn belogen?«

»Unsinn. Im Lügen bin ich gar nicht gut, das weißt du.«

»Stimmt.« Meggie musste lächeln. »Was ist das für eine Idee?«

»Das werde ich dir sagen, wenn ich weiß, ob sie funktioniert. «

Mo blätterte immer noch in Elinors Buch. Mit gerunzelter Stirn las er eine Seite, blätterte um und las eine andere.

»Bitte, Mo!« Meggie rückte ganz nah an seine Seite. »Nur ein einziges Gedicht. Ein klitzekleines. Bitte. Für mich.«

Er seufzte. »Ein einziges?«

Meggie nickte.

Draußen war der Autolärm verstummt. Die Welt war so still, als hätte sie sich eingesponnen wie ein Falter in einen Kokon, um erst am nächsten Morgen wieder hervorzuschlüpfen, verjüngt und nagelneu.

»Bitte, Mo, lies!«, sagte Meggie.

Und Mo begann, die Stille mit Wörtern zu füllen. Er lockte sie von den Seiten, als hätten sie nur auf seine Stimme gewartet -lange und kurze, spitznasige und weiche, schnurrende, gurrende Wörter. Sie tanzten durchs Zimmer, malten Bilder aus buntem Glas und kitzelten auf der Haut. Selbst als Meggie einnickte, hörte sie sie immer noch, obwohl Mo das Buch längst wieder zugeschlagen hatte. Wörter, die ihr die Welt erklärten, die dunkle und die helle Seite, und eine Mauer bauten gegen alle bösen Träume. Nicht einer kam in dieser Nacht hindurch.

Am nächsten Morgen flatterte ein Vogel auf Meggies Bett, orangerot wie das Mondlicht der vergangenen Nacht. Sie versuchte ihn zu fangen, doch er flog zum Fenster, hinter dem der blaue Himmel auf ihn wartete. Er prallte gegen das unsichtbare Glas, wieder und wieder, stieß sich den winzigen Kopf, bis Mo das Fenster öffnete und ihn hinausflattern ließ.

»Na, wünschst du dir immer noch, es zu können?«, fragte Mo, nachdem Meggie dem Vogel nachgesehen hatte, bis er mit dem Blau verschmolz.

»Er war wunderschön!«, sagte sie.

»Ja, aber wird es ihm hier gefallen?«, fragte Mo. »Und wer ist für ihn jetzt dort, wo er hergekommen ist?«

Meggie blieb am Fenster sitzen, während Mo hinunterging, um ihre Rechnung zu bezahlen. Sie erinnerte sich genau, welches Gedicht Mo in der Nacht zuletzt gelesen hatte. Sie holte das Buch von ihrem Nachttisch, zögerte einen Augenblick - und schlug es auf.

Da ist ein Ort, wo der Bürgersteig endet Und bevor die Straße beginnt Und dort wächst das Gras, das weiche, weiße Und dort brennt die Sonne, die purpurrot heiße Und der Mondvogel schläft dort nach langer Reise Im kühlen Pfefferminzwind.

Meggie flüsterte Shel Silversteins Worte, während sie sie las, aber kein Mondvogel flog von der Lampe. Und den Geruch nach Pfefferminz bildete sie sich bestimmt nur ein.

Fenoglio

Ihr kennt mich nicht, außer ihr habt n Buch gelesen, was »Tom Sawyers Abenteuer« heißt, aber drauf kommts nicht an. Das Buch hat Mr. Mark Twain gemacht, und was er drin erzählt, ist wahr — mehr oder weniger. Bei manche Sachen hat er übertreibt, aber das meiste stimmt. Ist ja eigentlich egal. Ich hab noch keinen gesehn, wo nicht manchmal lügt.

Mark Twain, Die Abenteuer des Huckleberry Finn

Staubfinger wartete mit Farid schon auf dem Parkplatz, als sie aus dem Hotel kamen. Über den nahen Hügeln hingen Regenwolken, ein schwüler Wind trieb sie langsam aufs Meer zu. Alles schien grau an diesem Tag, selbst die bunt verputzten Häuser und die blühenden Büsche am Straßenrand. Mo nahm die Küstenstraße, von der Elinor erzählt hatte, dass sie schon die Römer gebaut hätten, und folgte ihr weiter nach Westen.