Die ganze Fahrt über lag zu ihrer Linken das Meer, Wasser bis zum Horizont, mal verdeckt von Häusern, mal von Bäumen, doch an diesem Morgen sah es nicht halb so einladend aus wie an dem Tag, an dem Meggie mit Elinor und Staubfinger aus den Bergen gekommen war. Das Grau des Himmels spiegelte sich stumpf in den Wellen und die Gischt schäumte wie schmutziges Putzwasser. Meggie ertappte sich immer öfter dabei, dass ihre Blicke nach rechts wanderten, zu den Hügeln, zwischen denen sich irgendwo Capricorns Dorf verbarg. Einmal glaubte sie sogar in einer dunklen Falte den bleichen Kirchturm zu entdecken, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, obwohl sie wusste, dass es unmöglich Capricorns Kirche sein konnte. Schließlich erinnerten ihre Füße sich noch sehr genau an den endlos langen Weg.
Mo fuhr schneller als sonst, viel schneller, offenbar konnte er es kaum erwarten, ans Ziel zu kommen. Nach gut einer Stunde bogen sie von der Küstenstraße ab und folgten einer schmalen, gewundenen Straße durch ein Tal, das grau von Häusern war. Treibhäuser überzogen die Hügel, die Scheiben weiß gekalkt gegen die Sonne, die sich heute hinter den Wolken verbarg. Erst als die Straße anstieg, wurde es zu beiden Seiten wieder grün. Wilde Wiesen verdrängten die Mauern, und Olivenbäume krümmten sich am Straßenrand. Die Straße gabelte sich ein paar Mal und Mo musste immer wieder auf die Karte sehen, die er gekauft hatte, aber schließlich stand der richtige Name auf dem Straßenschild.
Es war ein kleiner Ort, in den sie hineinfuhren, kaum mehr als ein Platz, ein paar Dutzend Häuser und eine Kirche, die der in Capricorns Dorf sehr ähnlich sah. Als Meggie aus dem Auto stieg, sah sie tief unten das Meer liegen. Selbst aus der Entfernung sah man die Gischt auf den Wellen, so unruhig war es an diesem grauen Tag. Mo hatte auf dem Dorfplatz geparkt, gleich neben dem Denkmal für die Toten zweier vergangener Kriege. Die Liste der Namen war lang für einen so kleinen Ort, es schien Meggie, als wären es fast so viele Namen, wie das Dorf Häuser hatte.
»Lass den Wagen ruhig offen, ich pass schon auf ihn auf!«, sagte Staubfinger, als Mo das Auto abschließen wollte. Er warf sich den Rucksack über die Schulter, nahm den schläfrigen Gwin an die Kette und hockte sich auf die Stufen vor dem Denkmal. Farid ließ sich ohne ein Wort neben ihm nieder. Meggie aber folgte Mo.
»Denk dran, du hast versprochen, nichts von mir zu erzählen!«, rief Staubfinger ihnen nach.
»Ja, ja, schon gut!«, antwortete Mo.
Farid spielte schon wieder mit Streichhölzern, Meggie ertappte ihn dabei, als sie sich noch einmal umsah. Das brennende Hölzchen mit dem Mund löschen konnte er schon recht gut, doch Staubfinger nahm ihm die Streichhölzer trotzdem ab und Farid musterte unglücklich seine leeren Hände.
Meggie hatte durch den Beruf ihres Vaters schon oft Menschen kennen gelernt, die Bücher liebten, sie verkauften, sammelten, druckten oder, wie ihr Vater, davor bewahrten, auseinander zu fallen, doch noch nie war sie jemandem begegnet, der die Sätze schrieb, die all die Seiten füllten. Selbst bei einigen ihrer Lieblingsbücher wusste sie nicht einmal die Namen der Verfasser, geschweige denn, wie sie aussahen. Sie hatte immer bloß die Figuren gesehen, die ihr aus den Wörtern entgegentraten, nie den, der dahinter stand und sie erfunden hatte. Es war, wie Mo gesagt hatte: Schriftsteller stellte man sich meistens tot oder sehr, sehr alt vor. Doch der Mann, der ihnen öffnete, nachdem Mo zweimal an seiner Tür geklingelt hatte, war keins von beiden. Das heißt, alt war er schon, ziemlich alt, zumindest in Meggies Augen, mindestens sechzig oder noch älter. Sein Gesicht war faltig wie das einer Schildkröte, doch sein Haar war schwarz, ohne den leisesten Anflug von Grau (später würde sie herausfinden, dass er es färbte), und gebrechlich wirkte er auch nicht gerade. Im Gegenteil, er pflanzte sich auf so eindrucksvolle Weise vor ihnen in den leeren Türrahmen, dass es Meggie auf der Stelle die Zunge lähmte. Mo ging es zum Glück nicht so. »Herr Fenoglio?«, fragte er.
»Ja?« Das Gesicht wurde noch abweisender. Jede Falte füllte sich mit Missbilligung. Aber Mo schien das nicht zu beeindrucken.
»Mortimer Folchart«, stellte er sich vor, »das ist meine Tochter Meggie. Eins Ihrer Bücher führt mich her.«
Ein Junge erschien neben Fenoglio in der Tür, ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, auf der anderen Seite drängte sich ein Mädchen in den Türrahmen. Neugierig starrte die Kleine erst Mo und dann Meggie an. »Pippo hat die Schokolade aus dem Kuchen gepult«, hörte Meggie sie flüstern, während sie besorgt zu Mo hinaufblickte. Als er ihr zuzwinkerte, verschwand sie kichernd hinter Fenoglios Rücken, der immer noch alles andere als freundlich dreinblickte.
»Die ganze Schokolade?«, brummte er. »Ich komm gleich. Sag Pippo schon mal, dass er grässlichen Ärger kriegen wird.«
Das Mädchen nickte und rannte davon, offenbar war es gern die Überbringerin so schlechter Nachrichten. Der Junge umklammerte Fenoglios Bein.
»Es geht um ein ganz bestimmtes Buch«, fuhr Mo fort. »Tintenherz. Sie haben es vor langer Zeit geschrieben und man kann es leider nirgendwo mehr kaufen.« Meggie konnte sich nur wundern, dass Mo die Worte nicht an den Lippen kleben blieben unter dem finsteren Blick, der immer noch auf ihm ruhte.
»Ach das. Ja und?« Fenoglio verschränkte die Arme. Links von ihm tauchte wieder das Mädchen auf. »Pippo hat sich versteckt«, flüsterte es.
»Das wird ihm nichts nützen«, sagte Fenoglio. »Ich finde ihn immer.«
Das Mädchen huschte wieder davon. Meggie hörte, wie es drinnen im Haus laut nach dem Schokoladenräuber rief.
Fenoglio aber wandte sich wieder Mo zu. »Was wollen Sie? Falls Sie mir irgendwelche schlauen Fragen zu dem Buch stellen wollen vergessen Sie es. Ich habe keine Zeit für so was. Außerdem habe ich es, wie Sie ja schon selbst gesagt haben, vor einer halben Ewigkeit geschrieben.«
»Nein, ich habe keine Fragen dazu, außer einer. Ich wüsste gern, ob Sie noch einige Exemplare besitzen und ob ich Ihnen eines abkaufen kann.«
Jetzt musterte der alte Mann Mo schon nicht mehr ganz so abweisend.
»Sieh einer an. Das Buch muss es Ihnen ja wirklich angetan haben. Ich fühle mich geschmeichelt. Obwohl ...« Sein Gesicht verfinsterte sich erneut. »Sie sind doch wohl nicht einer von diesen Verrückten, die seltene Bücher sammeln, nur weil sie selten sind, oder?«
Mo musste lächeln. »Nein!«, sagte er. »Ich möchte es lesen. Einfach nur lesen.«
Fenoglio stemmte einen Arm gegen den Türrahmen und musterte das gegenüberliegende Haus, als hätte er Sorge, es würde im nächsten Moment zusammenstürzen. Die Gasse, in der er wohnte, war so schmal, dass Mo mit ausgestreckten Armen von einer Seite zur anderen hätte reichen können. Viele der Häuser waren aus sandgrauen groben Steinen gebaut, wie die Häuser in Capricorns Dorf, aber hier standen vor den Fenstern und auf den Treppen Blumen, und viele Fensterläden sahen aus, als wären sie frisch gestrichen. Vor einem Haus stand ein Kinderwagen, vor einem anderen lehnte ein Moped, und aus den offenen Fenstern drangen Stimmen auf die Gasse hinaus. Irgendwann, dachte Meggie, hat Capricorns Dorf wohl auch so ausgesehen.
Eine alte Frau ging vorbei, sie musterte die Fremden misstrauisch Fenoglio nickte ihr zu, murmelte einen knappen Gruß und wartete, bis sie hinter einer grün gestrichenen Haustür verschwunden war. »Tintenherz«, sagte er. »Das ist wirklich lange her. Und es ist seltsam, dass Sie gerade danach fragen.«
Das Mädchen kam zurück. Es zerrte an Fenoglios Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Fenoglios Schildkrötengesicht verzog sich zu einem Lächeln. So gefiel er Meggie schon besser. »Ja, da versteckt er sich jedes Mal, Paula«, sagte er leise zu dem Mädchen. »Vielleicht rätst du ihm, es mal mit einem besseren Versteck zu versuchen.«