Paula rannte zum dritten Mal davon, nicht ohne Meggie vorher noch einen langen neugierigen Blick zuzuwerfen.
»Gut, dann kommen Sie mal rein«, sagte Fenoglio. Ohne ein weiteres Wort winkte er Mo und Meggie ins Haus, ging ihnen durch einen engen dunklen Flur voran, humpelnd, weil ihm der Junge immer noch wie ein Äffchen am Bein hing, und stieß die Tür zur Küche auf, wo auf dem Tisch die Ruine eines Kuchens stand. Die braune Kruste war löchrig wie der Einband eines Buches, an dem seit Jahren Bücherwürmer nagen.
»Pippo?« Fenoglio brüllte so laut, dass selbst Meggie zusammenzuckte, obwohl sie sich keines Verbrechens schuldig fühlte. »Ich weiß, dass du mich hörst. Und ich sage dir, für jedes Loch in diesem Kuchen werde ich dir einen Knoten in deine Nase machen. Verstanden?«
Meggie hörte ein Kichern. Es schien aus dem Schrank neben dem Kühlschrank zu kommen. Fenoglio brach sich ein Stück von dem angebohrten Kuchen ab. »Paula«, sagte er, »gib dem Mädchen auch was, falls sie die Löcher nicht stören.« Paula kam unter dem Tisch hervor und blickte Meggie fragend an.
»Sie stören mich nicht«, sagte Meggie, worauf Paula mit einem gewaltigen Messer ein ebenso gewaltiges Stück Kuchen abschnitt und es vor ihr aufs Tischtuch legte.
»Pippo, reich mal einen von den Rosentellern raus«, sagte Fenoglio, und aus dem Schrank schob sich eine Hand mit einem Teller in den schokoladenbraunen Fingern. Meggie nahm ihn hastig entgegen, bevor er herunterfiel, und legte das Stück Kuchen darauf.
»Sie auch?«, fragte Fenoglio Mo.
»Ich hätte lieber das Buch«, antwortete Mo. Er war ziemlich blass.
Fenoglio pflückte sich den kleinen Jungen vom Bein und setzte sich. »Rico, such dir einen anderen Baum«, sagte er. Dann blickte er Mo nachdenklich an. »Ich kann es Ihnen nicht geben«, sagte er. »Ich besitze kein einziges Exemplar mehr. Sie sind gestohlen worden, alle. Ich hatte sie einer Ausstellung alter Kinderbücher zur Verfügung gestellt, drüben in Genua. Eine sehr üppig illustrierte Sonderausgabe war dabei, dann eins mit einer gezeichneten Widmung des Illustrators, die zwei Bücher, die meinen Kindern gehörten, samt all ihren hinein gekritzelten Anmerkungen (ich habe sie immer gebeten, anzustreichen, was sie am besten fanden), und schließlich mein ganz persönliches Exemplar. Alle gestohlen, zwei Tage nachdem die Ausstellung eröffnet worden war.«
Mo führ sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er die Enttäuschung fortwischen. »Gestohlen!«, sagte er. »Natürlich.«
»Natürlich?« Fenoglio kniff die Augen zusammen und musterte Mo voll Neugier. »Das müssen Sie mir erklären. Ich lasse Sie nicht aus dem Haus, bevor ich erfahren habe, warum Sie ausgerechnet nach diesem Buch fragen. Ich hetze die Kinder auf Sie, das ist nicht angenehm.«
Mo versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihm nicht besonders.
»Meins wurde mir auch gestohlen«, sagte er schließlich. »Und es war ebenfalls ein ganz besonderes Exemplar.«
»Erstaunlich.« Fenoglio hob die Augenbrauen. Wie struppige Raupen saßen sie über seinen Augen. »Los, erzählen Sie.« Aus seinem Gesicht war alle Feindseligkeit verschwunden. Die Neugier hatte das Zepter ergriffen, nichts als die pure Neugier. In Fenoglios Augen entdeckte Meggie den gleichen unstillbaren Hunger nach Geschichten, der sie selbst beim Anblick jedes neuen Buches überkam.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Meggie hörte Mos Stimme an, dass er nicht vorhatte, dem alten Mann die Wahrheit zu erzählen. »Ich restauriere Bücher. Ich lebe von ihnen. Ihres habe ich vor etlichen Jahren in einem Antiquariat gefunden, ich wollte es neu binden und dann verkaufen, doch es gefiel mir so gut, dass ich es behielt. Und nun ist es mir gestohlen worden und ich habe vergebens versucht, ein neues zu kaufen. Eine Freundin, die sich sehr gut darauf versteht, seltene Bücher aufzutreiben, schlug mir schließlich vor, es beim Autor selbst zu versuchen. Sie war es auch, die mir Ihre Adresse besorgt hat. Und so fuhr ich hierher.«
Fenoglio wischte ein paar Kuchenkrümel vom Tisch. »Schön«, sagte er. »Aber das ist nicht die ganze Geschichte.«
»Wie meinen Sie das?«
Der alte Mann musterte Mos Gesicht, bis der den Kopf abwandte und aus dem schmalen Küchenfenster sah. »Ich meine damit, dass ich gute Geschichten auf viele Meilen Entfernung rieche, also versuchen Sie nicht, eine vor mir zu verstecken. Heraus damit. Sie bekommen auch noch ein Stück von dem fabelhaften angebohrten Kuchen.«
Paula zwängte sich auf Fenoglios Schoß. Sie schob ihm den Kopf unters Kinn und musterte Mo ebenso erwartungsvoll wie der alte Mann.
Aber Mo schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, das lasse ich besser. Sie würden mir ohnehin kein Wort glauben.«
»Oh, ich glaube die verrücktesten Sachen!«, widersprach Fenoglio, während er ihm ein Stück Kuchen abschnitt. »Ich glaube jede Geschichte, solange sie nur gut erzählt wird.«
Die Schranktür öffnete sich einen Spalt und Meggie sah, wie sich der Kopf eines Jungen herausschob. »Was ist mit meiner Strafe?«, fragte er. Es musste Pippo sein, den Schokoladenfingern nach zu urteilen.
»Später«, sagte Fenoglio. »Jetzt habe ich erst mal anderes zu tun.«
Enttäuscht schob Pippo sich aus dem Schrank. »Du hast gesagt, du machst mir Knoten in die Nase.«
»Doppelknoten, Seemannsknoten, Schmetterlingsknoten, was immer du willst, aber erst muss ich diese Geschichte hören. Also stell noch ein paar Dummheiten an, bis ich Zeit habe.«
Pippo schob schmollend die Unterlippe vor und verschwand auf den Flur. Der kleine Junge sprang ihm hastig nach.
Mo schwieg immer noch, stupste Kuchenkrümel von der schartigen Tischplatte und malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Muster auf das Holz. »Es kommt jemand darin vor, dem ich versprochen habe, sie nicht zu erzählen«, sagte er schließlich.
»Ein schlechtes Versprechen wird nicht dadurch besser, dass man es hält«, sagte Fenoglio. »Zumindest steht es so in einem meiner Lieblingsbücher.«
»Ich weiß nicht, ob es ein schlechtes Versprechen war.« Mo seufzte und blickte zur Decke hinauf, als wäre dort die Antwort zu finden. »Also gut«, sagte er. »Ich erzähle es Ihnen. Aber Staubfinger wird mich umbringen, wenn er es erfährt.«
»Staubfinger? Ich habe mal eine Figur so genannt. Natürlich, einen der Gaukler im Tintenherz. Hab ihn im vorletzten Kapitel sterben lassen und geweint beim Schreiben, so rührend war das.«
Meggie verschluckte sich fast an dem Kuchenstück, das sie sich gerade in den Mund geschoben hatte, doch Fenoglio fuhr ungerührt fort: »Ich habe nicht viele meiner Figuren sterben lassen, aber manchmal passt es einfach. Sterbeszenen sind nicht leicht zu schreiben, sie geraten einem allzu schnell schmalzig, doch die von Staubfinger ist mir damals wirklich gut gelungen.«
Bestürzt sah Meggie Mo an. »Er stirbt? Aber ... wußtest du das?«
»Sicher. Ich habe die ganze Geschichte gelesen, Meggie.«
»Aber warum hast du es ihm nicht gesagt?«
»Er wollte es nicht hören.«
Fenoglio verfolgte ihren Wortwechsel mit verständnislosem Gesicht - und großer Neugier.
»Wer tötet ihn?«, fragte Meggie. »Basta?«
»Ah, Basta!« Fenoglio schmunzelte. Jede seiner Falten füllte sich mit Selbstzufriedenheit. »Einer der besten Schurken, die ich mir je ausgedacht habe. Ein tollwütiger Hund, aber nicht halb so schlimm wie mein anderer dunkler Held: Capricorn. Basta würde sich für ihn das Herz herausreißen lassen, doch Capricorn sind solche Leidenschaften fremd. Er empfindet nichts, gar nichts, nicht mal die eigene Grausamkeit macht ihm Spaß. Ja, für Tintenherz sind mir wirklich ein paar finstere Gestalten eingefallen, und dann auch noch der Schatten, Capricorns Hund, wie ich ihn selbst immer nannte. Aber natürlich ist das eine sehr verniedlichende Beschreibung für so ein Ungeheuer.«