Ich habe es mehr als ein Dutzend Mal versucht. Vielleicht wäre es doch keine schlechte Idee, ihn mit Fenoglio zusammenzubringen. Seinem Erfinder glaubt er wahrscheinlich eher als mir.« Mit einem Seufzer wischte er ein paar Kuchenkrümel von Fenoglios Küchentisch. »Es gab da ein Bild in Tintenherz«, murmelte er, während er mit der flachen Hand über die Tischplatte strich, als könnte er das Bild auf die Weise herbeizaubern. »Eine Gruppe von Frauen war darauf zu sehen, sie standen unter einem Torbogen, prächtig gekleidet, als gingen sie zu einem Fest. Eine von ihnen hatte ebenso helles Haar wie deine Mutter. Man sieht ihr Gesicht nicht auf dem Bild, sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu, aber ich habe mir immer vorgestellt, dass sie es ist. Verrückt, oder?«
Meggie legte ihre Hand auf seine. »Mo, versprich mir, dass du nicht noch mal zu dem Dorf fährst!«, sagte sie. »Bitte! Versprich mir, dass du nicht versuchst, das Buch zurückzubekommen.«
Der Sekundenzeiger von Fenoglios Küchenuhr schnitt die Zeit in schmerzhaft feine Scheiben, bis Mo endlich antwortete. »Ich verspreche es dir«, sagte er.
»Sieh mich an dabei!«
Er gehorchte. »Ich versprech es!«, wiederholte er. »Es gibt da nur noch eine Sache, die ich mit Fenoglio besprechen will, dann fahren wir nach Hause und vergessen das Buch. Zufrieden?«
Meggie nickte. Obwohl sie sich fragte, was es da noch zu besprechen gab.
Fenoglio kehrte mit einem verweinten Pippo auf dem Rücken zurück. Die anderen beiden Kinder folgten ihrem Großvater mit zerknirschten Gesichtern. »Löcher im Kuchen und jetzt auch noch eins auf der Stirn, ich glaube, ich sollte euch alle nach Hause schicken!«, schimpfte Fenoglio, während er Pippo auf einen Stuhl setzte. Dann wühlte er in dem großen Schrank, bis er ein Pflaster gefunden hatte, und klebte es seinem Enkel nicht allzu behutsam auf die aufgeschlagene Stirn.
Mo schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er. »Ich bringe Sie doch zu Staubfinger.«
Fenoglio drehte sich überrascht zu ihm um.
»Vielleicht können Sie ihm ja ein für alle Mal klar machen, dass er nicht zurückkann«, fuhr Mo fort. »Wer weiß, was er sonst als Nächstes tut. Ich fürchte, es könnte gefährlich für ihn werden ... Außerdem habe ich da so eine Idee, sie ist verrückt, aber ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.«
»Verrückter als das, was ich schon gehört habe? Das ist wohl kaum möglich, oder?« Fenoglios Enkel waren wieder im Schrank verschwunden. Kichernd zogen sie die Türen zu. »Ich höre mir Ihre Idee an«, sagte Fenoglio. »Aber vorher will ich Staubfinger sehen!«
Mo blickte Meggie an. Es geschah nicht oft, dass Mo ein Versprechen brach, und er fühlte sich ganz offensichtlich alles andere als wohl dabei. Meggie konnte das nur zu gut verstehen. »Er wartet auf der Piazza«, sagte Mo mit zögernder Stimme. »Aber lassen Sie erst mich mit ihm reden.«
»Auf der Piazza?« Fenoglios Augen weiteten sich. »Das ist ja wunderbar!« Ein Schritt und er stand vor dem kleinen Spiegel, der neben der Küchentür hing, und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar, fast als hätte er Angst, Staubfinger könne vom Aussehen seines Erfinders enttäuscht sein. »Ich werde so tun, als würde ich ihn gar nicht sehen, bis Sie mich rufen!«, sagte er. »Ja, so machen wir es.«
Im Schrank polterte es und Pippo stolperte in einer Jacke heraus, die ihm bis zu den Knöcheln hing. Auf seinem Kopf saß ein Hut, der so groß war, dass er ihm über die Augen rutschte.
»Natürlich!« Fenoglio zog Pippo den Hut vom Haar und setzte ihn sich selbst auf. »Das ist es. Ich nehme die Kinder mit! Ein Großvater mit drei Enkeln, das ist doch wirklich kein beunruhigender Anblick, oder?«
Mo nickte nur und schob Meggie auf den schmalen Flur hinaus.
Als sie die Gasse hinuntergingen, die zurück zur Piazza und zu ihrem Auto führte, folgte Fenoglio ihnen mit ein paar Metern Abstand. Seine Enkel sprangen um ihn herum wie drei junge Hunde.
Ein Frösteln und eine Ahnung
Und jetzt erst legte sie ihr Buch hin. Und sah mich an.
Und sprach es aus: »Das Leben ist nicht gerecht, Bill.
Wir erzählen unseren Kindern, daß es gerecht ist, aber das ist eine Gemeinheit. Es ist nicht bloß eine Lüge, es ist eine grausame Lüge. Das Leben ist nicht gerecht, ist es nie gewesen und wird es nie sein.«
William Goldman, Die Brautprinzessin
Staubfinger hockte auf den kühlen Steinstufen und wartete. Ihm war übel vor Angst, wovor, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht erinnerte ihn das Denkmal in seinem Rücken zu sehr an den Tod. Vor dem Tod hatte er sich schon immer gefürchtet, kalt stellte er ihn sich vor, wie eine Nacht ohne Feuer. Allerdings fürchtete er etwas anderes inzwischen fast noch mehr, und das war die Traurigkeit. Seit Zauberzunge ihn in diese Welt gelockt hatte, folgte sie ihm wie ein zweiter Schatten. Traurigkeit, die die Glieder schwer macht und den Himmel grau.
Neben ihm hüpfte der Junge die Stufen hinauf. Hinauf und hinunter, unermüdlich, mit leichten Füßen und zufriedenem Gesicht, als hätte Zauberzunge ihn geradewegs ins Paradies gelesen.
Was machte ihn nur so glücklich? Staubfinger blickte sich um, musterte die schmalen Häuser, blassgelb, rosa, pfirsichfarben, die dunkelgrünen Fensterläden und rostrot geziegelten Dächer, den Oleander, der vor einer Mauer blühte, als stünden seine Zweige in Flammen, die Katzen, die um die warmen Mauern strichen. Farid schlich sich an eine von ihnen heran, griff in das graue Fell und setzte sie auf seinen Schoß, obwohl sie ihm die Krallen in die Schenkel grub.
»Weißt du, was man hier tut, damit die Katzen sich nicht allzu sehr vermehren?« Staubfinger streckte die Beine aus und blinzelte in die Sonne. »Sobald der Winter kommt, nehmen die Leute ihre eigenen Katzen ins Haus und stellen für die Streuner Schüsseln mit vergiftetem Futter vor die Tür.«
Farid strich der Grauen über die spitzen Ohren. Sein Gesicht war starr geworden, keine Spur mehr von dem schnurrenden Glück, das es eben noch so weich hatte aussehen lassen. Staubfinger blickte schnell zur Seite. Warum hatte er das gerade gesagt? Hatte ihn das Glück auf dem Gesicht des Jungen gestört?
Farid ließ die Katze laufen und stieg die Stufen zum Denkmal hoch.
Dort oben hockte er immer noch, auf der Mauer, die Beine angezogen, als die anderen zwei zurückkamen. Zauberzunge hatte kein Buch in der Hand, sein Gesicht war angespannt - und das schlechte Gewissen stand ihm auf die Stirn geschrieben.
Warum? Weswegen konnte Zauberzunge ein schlechtes Gewissen haben? Staubfinger sah sich misstrauisch um, ohne zu wissen, wonach er Ausschau hielt. Zauberzunge trug seine Gefühle stets auf dem Gesicht spazieren, er war ein ewig aufgeschlagenes Buch, in dessen Seiten jeder Fremde lesen konnte. Seine Tochter war da schon anders. Was in ihr vorging, war nicht so leicht zu entziffern. Aber als sie jetzt auf ihn zukam, glaubte Staubfinger so etwas wie Sorge in ihren Augen zu entdecken, vielleicht war es sogar Mitleid. Galt das etwa ihm? Was hatte dieser Schreiberling erzählt, dass das Mädchen ihn so ansah?
Er richtete sich auf und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Er hatte kein Buch mehr, stimmt's?«, sagte er, als die beiden vor ihm standen.
»Stimmt. Sie sind alle gestohlen worden«, antwortete Zauberzunge. »Schon vor Jahren.«
Seine Tochter ließ Staubfinger nicht aus den Augen.
»Was starrst du mich so an, Prinzessin?«, fuhr er sie an. »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«
Ins Schwarze getroffen. Ohne Absicht. Er hatte gar nichts treffen wollen, schon gar nicht irgendeine Wahrheit. Das Mädchen biss sich auf die Lippen, sah ihn immer noch an mit dieser Mischung aus Mitleid und Sorge.