Geschwätziger Pippo
»Man hat euch falsch informiert«, sagte Butterblume zu ihm.
»Hier ist kein Dorf, auf viele Meilen nicht.«
»Dann ist ja auch niemand da, der dich schreien hört«, sagte der Sizilianer und sprang sie mit erstaunlicher Behendigkeit an.
William Goldman, Die Brautprinzessin
Am nächsten Morgen, es war vielleicht zehn Uhr, rief Elinor bei Fenoglio an. Meggie saß oben bei Mo und sah zu, wie er ein Buch von seinem angeschimmelten Einband befreite, so vorsichtig, als zöge er ein verletztes Tier aus einer Falle.
»Mortimer!«, rief Fenoglio die Treppe hinauf. »Da ist ein hysterisches Weibsbild an meinem Telefon und schreit mir unverständliches Zeug ins Ohr. Behauptet, eine Freundin von dir zu sein.«
Mo legte das kleiderlose Buch zur Seite und ging nach unten. Fenoglio hielt ihm mit finsterer Miene den Hörer entgegen. Elinors Stimme spuckte Wut und Verzweiflung in das friedliche Arbeitszimmer. Mo hatte Mühe, sich auf das, was sie ihm ins Ohr schimpfte, einen Reim zu machen.
»Wie wusste er ... ach ja, natürlich ...«, hörte Meggie ihn sagen. »Verbrannt? Alle?« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah Meggie an, aber sie hatte das Gefühl, dass er durch sie hindurchblickte. »In Ordnung«, sagte er. »Ja, sicher, obwohl ich fürchte, dass sie dir auch hier kein Wort glauben werden. Und für das, was mit deinen Büchern passiert ist, ist die hiesige Polizei nicht zuständig ... ja, gut. Natürlich ... Ich hol dich ab. Ja.«
Dann legte er den Hörer auf.
Fenoglio konnte seine Neugier nicht verhehlen. Er witterte eine neue Geschichte. »Was war das nun wieder?«, fragte er ungeduldig, während Mo nur dastand und das Telefon anstarrte. Es war Samstag. Rico hing wie ein Äffchen auf Fenoglios Rücken, aber die anderen beiden Kinder waren noch nicht aufgetaucht. »Mortimer, was ist? Redest du nicht mehr mit uns? Sieh dir deinen Vater an, Meggie! Steht da wie ausgestopft.«
»Das war Elinor«, sagte Mo. »Die Tante von Meggies Mutter. Ich habe dir von ihr erzählt. Capricorns Männer sind bei ihr eingebrochen. Sie haben im ganzen Haus die Bücher aus den Regalen gerissen und als Fußabtreter benutzt, und die Bücher, die in Eli-nors Bibliothek standen -«, er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach, »- ihre kostbarsten Bücher haben sie nach draußen geschafft und im Garten verbrannt. Alles, was sie noch in ihrer Bibliothek vorgefunden hat, war ein toter Hahn.«
Fenoglio ließ seinen Enkel vom Rücken rutschen. »Rico, sieh mal nach den Kätzchen!«, sagte er. »Das hier ist nichts für deine Ohren.« Rico protestierte, aber sein Großvater schob ihn unbarmherzig aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter ihm. »Wieso bist du so sicher, dass Capricorn dahinter steckt?«, fragte er, als er sich wieder zu Mo umwandte.
»Wer sonst? Außerdem ist der rote Hahn doch, soweit ich mich erinnere, sein Wahrzeichen. Hast du deine eigene Geschichte vergessen?«
Fenoglio schwieg bedrückt. »Nein, nein, ich erinnere mich«, murmelte er.
»Was ist mit Elinor?« Meggie wartete mit klopfendem Herzen auf Mos Antwort.
»Die war zum Glück noch nicht zu Hause, hat sich Zeit für den Rückweg genommen. Dem Himmel sei Dank. Aber du kannst dir ja vorstellen, wie es ihr geht. Ihre schönsten Bücher, mein Gott ...«
Fenoglio sammelte mit fahrigen Fingern ein paar Spielzeugsoldaten von seinem Teppich. »Ja, Capricorn liebt das Feuer«, sagte er mit belegter Stimme. »Wenn er es wirklich war, dann kann eure Freundin sehr froh sein, dass er sie nicht gleich mit verbrannt hat.«
»Ich werde es ihr bestellen.« Mo griff nach einer Streichholzschachtel, die auf Fenoglios Schreibtisch lag, zog sie auf und schob sie langsam wieder zu.
»Was ist mit meinen Büchern?« Meggie wagte die Frage kaum zu stellen. »Meine Kiste - ich hatte sie unter dem Bett versteckt.«
Mo legte die Streichholzschachtel zurück auf den Schreibtisch. »Das ist die einzige gute Nachricht«, sagte er. »Deiner Kiste ist nichts passiert. Sie steht immer noch unter dem Bett. Elinor hat nachgesehen.«
Meggie holte tief Luft. Ob Basta die Bücher angesteckt hatte? Nein, Basta hatte Angst vor Feuer, sie konnte sich noch zu gut erinnern, wie Staubfinger ihn damit aufgezogen hatte. Aber letztendlich war es ja egal, wer von den Schwarzjacken es gewesen war. Elinors Schätze waren fort, und nicht einmal Mo konnte sie zurückbringen.
»Elinor kommt mit dem Flugzeug her, ich soll sie abholen«, sagte Mo. »Sie hat sich in den Kopf gesetzt, Capricorn die Polizei auf den Hals zu hetzen. Ich habe ihr gesagt, dass ich das für aussichtslos halte. Selbst wenn sie beweisen könnte, dass es seine Männer waren, die bei ihr eingebrochen sind, wie will sie beweisen, dass er den Befehl gegeben hat? Aber du kennst ja Elinor.«
Meggie nickte düster. Ja, sie kannte Elinor - und sie konnte sie nur zu gut verstehen.
Aber Fenoglio lachte. »Die Polizei! Capricorn kann man doch nicht mit der Polizei kommen!«, rief er. »Er macht sich seine eigenen Regeln, seine eigenen Gesetze ...«
»Hör auf! Das ist kein Buch, das du schreibst!«, unterbrach Mo ihn barsch. »Wahrscheinlich macht es Spaß, jemanden wie Capricorn zu erfinden, aber glaub mir, es macht nicht den geringsten Spaß, ihm zu begegnen. Ich fahre zum Flughafen, Meggie lass ich hier. Pass gut auf sie auf.«
Bevor Meggie protestieren konnte, war er aus der Tür. Sie lief ihm nach, aber auf der Gasse kamen ihr Paula und Pippo entgegen. Sie hielten sie fest und wollten sie mit sich ziehen. Den Menschenfresser sollte sie spielen, die Hexe, das sechsarmige Ungeheuer -Figuren aus den Geschichten ihres Großvaters, mit denen sie die Welt und ihre Spiele bevölkerten. Als Meggie es endlich geschafft hatte, die kleinen Hände abzuschütteln, war Mo längst fort. Der Platz, an dem er den Leihwagen geparkt hatte, war leer und Meggie stand auf der Piazza, allein mit dem Denkmal für die Toten und ein paar alten Männern, die, die Hände in den Hosentaschen vergraben, aufs Meer blickten.
Unschlüssig schlenderte sie zu den Stufen vor dem Denkmal und setzte sich. Ihr war nicht danach zumute, Fenoglios Enkel durch sein Haus zu jagen oder Verstecken mit ihnen zu spielen. Nein, sie wollte einfach dasitzen und auf Mos Rückkehr warten. Der heiße Wind, der in der letzten Nacht durch das Dorf geweht und feinen Sand auf den Fensterbrüstungen hinterlassen hatte, war weitergezogen. Die Luft war kühler als an den vergangenen Tagen. Über dem Meer war der Himmel noch klar, doch von den Hügeln trieben graue Wolken heran, und jedes Mal, wenn die Sonne hinter ihnen verschwand, legte sich ein Schatten über die Dächer des Ortes, der Meggie frösteln ließ.
Eine Katze schlich auf sie zu, steifbeinig, den Schwanz in die Höhe gestreckt. Es war ein mageres kleines Ding mit Zecken im grauen Fell und Rippen, die sich wie Streifen unter dem feinen Haar abzeichneten. Meggie lockte sie mit leiser Stimme, bis sie ihr den Kopf unter den Arm schob und schnurrend um ein paar streichelnde Finger bat. Sie sah nicht aus, als ob sie jemandem gehörte, kein Halsband, kein Gramm Fett, das von einem fürsorgenden Besitzer kündete. Meggie kraulte ihr die Ohren, das Kinn, den Rücken, während sie die Straße hinuntersah, die gleich hinter dem Dorf mit einer scharfen Biegung hinter den Häusern verschwand.
Wie weit war es zum nächsten Flugplatz? Meggie stützte das Gesicht in die Hände. Über ihr ballten sich die Wolken immer bedrohlicher zusammen. Dichter und dichter trieben sie heran, grau vom Regen.
Die Katze rieb den Rücken an ihrem Knie, und während Meg-gies Finger über das schmutzige Fell strichen, kam ihr plötzlich eine neue Frage in den Sinn. Was, wenn Staubfinger Capricorn nicht nur von Elinors Haus berichtet hatte? Was, wenn er ihm auch erzählt hatte, wo sie und Mo zu Hause waren? Erwartete sie dann auch ein Haufen Asche auf dem Hof? Nein. Sie wollte nicht daran denken. Er weiß es nicht!, flüsterte sie. Er weiß gar nichts. Staubfinger hat es ihm nicht erzählt. Immer wieder flüsterte sie es, wie eine Beschwörung.