Meggie sah ihn ungläubig an. »Capricorns Mutter? Die Elster?«
»Die Elster! Nennst du sie so?« Fenoglio lachte leise. »Genau den Spitznamen hat sie auch in meiner Geschichte. Wirklich erstaunlich. Hüte dich vor ihr. Sie hat keinen sonderlich angenehmen Charakter.«
»Ich dachte, sie ist seine Haushälterin.«
»Hm, das solltest du vermutlich auch denken. Also behalte unser kleines Geheimnis einstweilen für dich, verstanden?«
Meggie nickte, auch wenn sie nichts verstand. Es war ohnehin egal, wer die Alte war. Alles war egal. Diesmal war kein Staubfinger da, der nachts die Tür öffnen würde. Alles war umsonst gewesen - als wären sie nie fortgelaufen. Sie trat auf die verschlossene Tür zu und presste die Hände dagegen. »Mo wird herkommen!«, flüsterte sie. »Und dann werden sie uns hier für immer und ewig einsperren.«
»Na, na!« Fenoglio richtete sich auf und trat zu ihr. Er zog sie an seine Brust und ließ sie das Gesicht in seine Jacke drücken. Der Stoff war grob und roch nach Pfeifentabak. »Mir wird schon etwas einfallen!«, raunte er Meggie zu. »Schließlich habe ich diese Schurken erfunden. Da wäre es doch gelacht, wenn ich sie nicht auch wieder aus der Welt schaffen könnte. Dein Vater hatte da so eine Idee, aber ...«
Meggie hob das tränennasse Gesicht und sah ihn hoffnungsvoll an, doch der alte Mann schüttelte den Kopf. »Später. Jetzt erklär mir erst mal, welches Interesse Capricorn an deinem Vater hat. Hat es mit seinen Vorlesekünsten zu tun?«
Meggie nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Er will, dass Mo ihm jemanden herliest, einen alten Freund ...«
Fenoglio reichte ihr ein Taschentuch. Es fielen ein paar Tabakkrümel heraus, als sie sich die Nase damit putzte. »Einen Freund? Capricorn hat keine Freunde.« Der alte Mann runzelte die Stirn. Dann spürte Meggie, wie er plötzlich tief Luft holte.
»Wer ist es?«, fragte sie, doch Fenoglio wischte ihr nur eine Träne von der Backe. »Jemand, dem du hoffentlich nur zwischen zwei Buchdeckeln begegnen wirst«, antwortete er ausweichend. Dann drehte er sich um und begann auf und ab zu gehen. »Capricorn wird bald zurück sein«, sagte er. »Ich muss mir überlegen, wie ich ihm gegenübertrete.«
Doch Capricorn kam nicht. Draußen wurde es dunkel, und immer noch hatte niemand sie aus ihrem Gefängnis geholt. Nicht einmal etwas zu essen bekamen sie. Es wurde kalt, als die Nachtluft durch das Loch in der Mauer drang, und sie hockten sich Seite an Seite auf den harten Boden, um sich aneinander zu wärmen.
»Ist Basta eigentlich immer noch so abergläubisch?«, fragte Fenoglio irgendwann.
»Ja, sehr«, antwortete Meggie. »Staubfinger zieht ihn gern damit auf.«
»Gut«, murmelte Fenoglio. Aber mehr sagte er nicht.
Capricorns Magd
Da ich meinen Vater und meine Mutter nie gesehen habe, rührten meine ersten Vorstellungen, die ich mir von ihrem Aussehen machte, unsinnigerweise von ihren Grabsteinen her. Die Form der Buchstaben auf dem meines Vaters gab mir den kuriosen Gedanken ein, er sei ein breitschultriger, gedrungener Mann mit lockigem schwarzen Haar und dunklem Teint gewesen. Aus der Form und Linienführung der Inschrift »Desgleichen Georgiana, Frau des Obigen« zog ich den kindischen Schluß, daß meine Mutter sommersprossig und kränklich gewesen sei.
Charles Dickens, Große Erwartungen
Staubfinger brach auf, als die Nacht nicht mehr dunkler werden konnte. Der Himmel war immer noch bewölkt, nicht ein einziger Stern war zu sehen. Nur der Mond tauchte ab und zu zwischen den Wolken auf, schwindsüchtig dünn, wie ein Scheibchen Zitrone in einem Meer von Tinte.
Staubfinger war dankbar für so viel Finsternis, doch der Junge zuckte bei jedem Zweig, der ihm übers Gesicht strich, zusammen.
»Verflucht, ich hätte dich doch bei dem Marder lassen sollen!«, fuhr Staubfinger ihn an. »Du wirst uns noch mit deinem Zähneklappern verraten. Sieh nach vorn! Da liegt das, was dir Angst machen sollte! Keine Geister, sondern Gewehre.«
Vor ihnen, nur ein paar Schritte entfernt, lag Capricorns Dorf. Die neu aufgestellten Scheinwerfer gossen taghelles Licht zwischen die grauen Häuser.
»Da soll noch einer sagen, diese Elektrizität sei ein Segen!«, flüsterte Staubfinger, während sie am Rand des Parkplatzes entlangschlichen. Zwischen den abgestellten Wagen schlenderte gelangweilt ein Wachtposten umher. Gähnend lehnte er sich gegen den Laster, mit dem Cockerell am Nachmittag die Ziegen gebracht hatte, und schob sich Kopfhörer über die Ohren.
»Sehr gut! So könnte eine Armee hier anrücken und er würde es nicht hören!«, flüsterte Staubfinger. »Wenn Basta hier wäre, würde er den Kerl dafür drei Tage ohne einen Bissen Brot in Capricorns Viehverschläge sperren.«
»Wie wär's, wenn wir über die Dächer gehen?« Aus Farids Gesicht war alle Angst verschwunden. Der Wachtposten mit seiner Flinte beunruhigte den Jungen nicht halb so sehr wie seine eingebildeten Geister. Staubfinger konnte über so viel Unverstand nur den Kopf schütteln. Das mit den Dächern war allerdings keine dumme Idee. An einem der Häuser, die an den Parkplatz grenzten, rankte ein Weinstock empor. Er war seit Jahren nicht beschnitten worden. Sobald der Posten, wippend zum Klang der Musik, die ihm die Ohren füllte, auf die andere Seite des Parkplatzes schlenderte, zog Staubfinger sich an den verholzten Zweigen hoch. Der Junge kletterte noch besser als er. Stolz streckte er ihm die Hand entgegen, als er oben auf dem Dach stand. Wie streunende Katzen schlichen sie weiter, vorbei an Schornsteinen, Antennen und Capricorns Scheinwerfern, die ihr Licht nur nach unten richteten und alles hinter sich in schützendem Dunkel ließen. Einmal löste sich eine Dachschindel unter Staubfingers Stiefeln, aber er konnte gerade noch rechtzeitig nach ihr greifen, bevor sie unten auf der Gasse zerschellte.
Als sie den Platz erreichten, an dem die Kirche und Capricorns Haus lagen, ließen sie sich an einer Dachrinne hinunter. Staubfinger duckte sich für ein paar atemlose Augenblicke hinter einem Stapel leerer Obstkisten und hielt nach Wachtposten Ausschau. Nicht nur der Platz, auch die schmale Gasse, die sich seitlich an Capricorns Haus entlangzog, war in taghelles Licht getaucht. Am Brunnen vor der Kirche hockte eine schwarze Katze. Basta wäre bei ihrem Anblick wohl das Herz stehen geblieben, doch Staubfinger beunruhigten die Posten vor Capricorns Haus weit mehr. Gleich zwei lungerten vor dem Eingang herum. Der eine, ein abgebrochener stämmiger Kerl, hatte Staubfinger vor vier Jahren aufgestöbert, oben im Norden, in einer Stadt, in der er gerade seine letzte Vorstellung geben wollte. Zusammen mit zwei anderen hatte er ihn hergeschleppt, und Capricorn hatte Staubfinger nach Zauberzunge und dem Buch gefragt, auf seine ganz spezielle Weise.
Die beiden Männer stritten sich. Sie waren so miteinander beschäftigt, dass Staubfinger sich ein Herz fasste und mit ein paar schnellen Schritten in der Gasse verschwand, die an Capricorns Haus vorbeiführte. Farid folgte ihm, lautlos wie sein zum Leben erwachter Schatten. Capricorns Haus war ein großes, klobiges Gebäude, vielleicht war es irgendwann das Rathaus des Dorfes gewesen, ein Kloster oder eine Schule. Alle Fenster waren dunkel, und auf der Gasse war kein weiterer Wachtposten zu sehen. Doch Staubfinger blieb wachsam. Er wusste, dass die Posten gern in den dunklen Türeingängen lehnten, unsichtbar in ihren schwarzen Anzügen wie Raben in der Nacht. Ja, Staubfinger wusste fast alles über Capricorns Dorf. Er war oft genug durch diese Gassen gestreift, seit Capricorn ihn hatte herbringen lassen, damit er Zauberzunge und das Buch für ihn suchte. Jedes Mal, wenn ihn das Heimweh verrückt machte, war er hierher gekommen, zu seinen alten Feinden, nur um sich nicht mehr ganz so fremd zu fühlen. Selbst die Angst vor Bastas Messer hatte ihn nicht fern halten können.