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Meggie seufzte. Sie erinnerte sich an einige Tanten, und mit keiner war sie sonderlich gut klargekommen.

Aus den Hügeln waren Berge geworden, die Hänge zu beiden Seiten der Straße wurden immer schroffer, und irgendwann sahen die Häuser nicht nur fremd, sondern anders aus. Meggie versuchte sich die Zeit zu vertreiben, indem sie die Tunnel zählte, doch als der neunte sie verschluckte und die Dunkelheit gar kein Ende nehmen wollte, schlief sie ein. Sie träumte von Mardern in schwarzen Jacken und einem Buch in braunem Packpapier.

Ein Haus voller Bücher

»Mein Garten bleibt mein Garten«, sagte der Riese,

»alle verstehen das, und niemand soll darin spielen als ich.«

Oscar Wilde, Der selbstsüchtige Riese

Meggie wachte davon auf, dass es still war.

Das gleichmäßige Brummen des Motors, das sie in den Schlaf gelullt hatte, war verstummt, und der Fahrersitz neben ihr war leer. Meggie brauchte einige Zeit, bis sie sich erinnerte, warum sie nicht in ihrem Bett lag. An der Windschutzscheibe klebten winzige tote Fliegen, und der Bus parkte vor einem Eisentor. Es sah Furcht einflößend aus mit all den matt glänzenden Spitzen, ein Tor aus Spießen, das nur darauf wartete, dass jemand versuchte, sich hinüberzuschwingen, und zappelnd daran hängen blieb. Sein Anblick erinnerte Meggie an eine ihrer Lieblingsgeschichten, die vom selbstsüchtigen Riesen, der keine Kinder in seinem Garten haben wollte. Genau so hatte sie sich sein Tor immer vorgestellt.

Mo stand auf der Straße, zusammen mit Staubfinger. Meggie stieg aus und lief zu ihnen. Die Straße grenzte zur Rechten an einen dicht bewachsenen Abhang, der steil abfiel zum Ufer eines großen Sees. Die Hügel auf der anderen Seite ragten aus dem Wasser wie Berge, die darin ertrunken waren. Das Wasser war fast schwarz, am Himmel machte sich schon der Abend breit und spiegelte sich dunkel in den Wellen. In den Häusern am Ufer flammten die ersten Lichter auf, wie Glühwürmchen oder herabgefallene Sterne.

»Schön, nicht wahr?« Mo legte Meggie den Arm um die Schultern. »Du magst doch Räubergeschichten. Siehst du die Burgruine da? Auf der hat mal eine berüchtigte Räuberbande gehaust. Ich muss Elinor danach fragen. Sie weiß alles über diesen See.«

Meggie nickte nur und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Ihr war schwindlig vor Müdigkeit, aber Mos Gesicht war zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch nicht mehr dunkel vor Sorge. »Wo wohnt sie denn nun?«, fragte sie und verkniff sich ein Gähnen. »Doch wohl nicht hinter dem Stacheltor da, oder?«

»O doch. Das ist der Eingang zu ihrem Grundstück. Nicht sehr einladend, stimmt's?« Mo lachte und zog Meggie über die Straße. »Elinor ist sehr stolz auf dieses Tor. Sie hat es eigens anfertigen lassen, nach einem Bild in einem Buch.«

»Ein Bild vom Garten des selbstsüchtigen Riesen?«, murmelte Meggie, während sie durch die kunstvoll verschlungenen Eisenstäbe lugte.

»Der selbstsüchtige Riese?« Mo lachte. »Nein, ich glaube, es war eine andere Geschichte. Obwohl die sehr gut zu Elinor passen würde.«

An das Tor grenzten zu beiden Seiten hohe Hecken, die jede Sicht auf das, was hinter ihnen lag, mit dornigen Zweigen verwehrten. Aber auch durch die Eisenstäbe konnte Meggie außer ausladenden Rhododendronbüschen und einem breiten Kiesweg, der bald zwischen ihnen verschwand, nichts Verheißungsvolles entdecken.

»Das sieht nach reicher Verwandtschaft aus, nicht wahr?«, raunte Staubfinger ihr ins Ohr.

»Ja, Elinor ist ziemlich reich«, sagte Mo und zog Meggie von dem Tor zurück. »Aber vermutlich wird sie irgendwann arm wie eine Kirchenmaus enden, weil sie ihr ganzes Geld für Bücher ausgibt. Ich fürchte, sie würde ohne Zögern ihre Seele verkaufen, wenn der Teufel ihr dafür das richtige Buch böte.« Mit einem Ruck stieß er das schwere Tor auf.

»Was tust du?«, fragte Meggie alarmiert. »Da können wir doch nicht einfach rein.« Das Schild neben dem Tor war immer noch deutlich zu lesen, auch wenn ein paar Buchstaben schon hinter den Zweigen der Hecke verschwanden. PRIVATBESITZ. ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Für Meggie klang das wirklich nicht sehr einladend.

Doch Mo lachte nur. »Keine Sorge«, sagte er und stieß das Tor noch weiter auf. »Das Einzige, was bei Elinor mit einer Alarmanlage gesichert ist, ist ihre Bibliothek. Wer durch ihr Tor spaziert, ist ihr egal. Sie ist nicht gerade das, was man eine ängstliche Frau nennt. Und sehr viel Besuch bekommt sie ohnehin nicht.«

»Was ist mit Hunden?« Staubfinger lugte mit besorgtem Gesicht in den fremden Garten. »Dieses Tor sieht nach mindestens drei kälbergroßen bissigen Hunden aus.«

Aber Mo schüttelte nur den Kopf. »Elinor verabscheut Hunde«, sagte er, während er zurück zum Bus ging. »Und nun steigt ein.«

Das Grundstück von Meggies Tante glich eher einem Wald als einem Garten. Schon bald hinter dem Tor beschrieb der Weg eine Biegung, als wollte er Schwung holen, bevor er weiter den Hang hinaufführte, dann verlor er sich zwischen dunklen Tannen und Kastanienbäumen. Sie säumten ihn so dicht, dass ihre Zweige einen Tunnel bildeten, und Meggie glaubte schon, dass er nie ein Ende nehmen würde, als die Bäume plötzlich zurückwichen und der Weg in einen kiesbestreuten Platz, umgeben von sorgsam gepflegten Rosenbeeten, mündete.

Ein grauer Kombi stand auf dem Kies, vor einem Haus, das größer war als die Schule, die Meggie das letzte Jahr besucht hatte. Sie versuchte die Fenster zu zählen, doch sie gab es schnell auf. Es war ein sehr schönes Haus, aber es wirkte ebenso wenig einladend wie das Eisentor an der Straße. Vielleicht sah der ockergelbe Putz nur in der Abenddämmerung so schmutzig aus. Und vielleicht waren die grünen Fensterläden nur deshalb geschlossen, weil die Nacht schon hinter den umliegenden Bergen saß. Vielleicht. Aber Meggie hätte einiges darauf verwettet, dass sie sich auch tagsüber nur selten öffneten. Die Haustür aus dunklem Holz sah so abweisend aus wie ein zugekniffener Mund, und Meggie fasste unwillkürlich nach Mos Hand, als sie darauf zugingen.

Staubfinger folgte ihnen nur zögernd, den zerschlissenen Rucksack, in dem Gwin wohl immer noch schlief, über der Schulter. Als Mo mit Meggie vor die Tür trat, blieb er ein paar Schritte hinter ihnen stehen und musterte unbehaglich die verschlossenen Fensterläden, als verdächtigte er die Hausherrin, sie von irgendeinem der Fenster aus zu beobachten.

Neben der Haustür war ein kleines vergittertes Fenster, das einzige, das sich nicht hinter grünen Läden verbarg. Darunter hing wieder ein Schild.

SOLLTEN SIE MEINE ZEIT MIT NICHTIGKEITEN VERSCHWENDEN WOLLEN,

DANN GEHEN SIE BESSER GLEICH WIEDER

Meggie warf Mo einen besorgten Blick zu, aber der schnitt ihr nur aufmunternd eine Grimasse und klingelte.

Meggie hörte, wie die Glocke durch das große Haus schrillte. Dann passierte für eine ganze Weile nichts. Nur eine Elster flatterte schimpfend aus einem der Rhododendronbüsche, die um das Haus herum wuchsen, und ein paar fette Spatzen pickten hektisch im Kies nach unsichtbaren Insekten. Meggie warf ihnen gerade ein paar Brotkrümel zu, die sie noch in der Jackentasche hatte - von einem Picknick an einem längst vergessenen Tag -, als die Tür abrupt aufgerissen wurde.

Die Frau, die heraustrat, war älter als Mo, ein gutes Stück älter -obwohl Meggie sich nie ganz sicher war, was das Alter Erwachsener betraf. Ihr Gesicht erinnerte Meggie an das einer Bulldogge, aber vielleicht lag das mehr am Ausdruck als an dem Gesicht selber. Sie trug einen mausgrauen Pullover über einem aschgrauen Rock, eine Perlenkette um den kurzen Hals und Filzpantoffeln an den Füßen, wie Meggie sie mal in einem Schloss hatte anziehen müssen, das Mo und sie besichtigten. Elinors Haar wurde schon grau, sie hatte es hochgesteckt, doch überall hingen Strähnen heraus, als hätte sie es hastig getan und voll Ungeduld. Elinor sah nicht so aus, als verbrächte sie allzu viel Zeit vor dem Spiegel.