Staubfinger hob einen flachen Stein auf, winkte Farid an seine Seite und warf den Stein die Gasse hinunter. Nichts regte sich. Der Posten machte seine Runde, wie er gehofft hatte, und Staubfinger huschte auf die hohe Mauer zu, hinter der Capricorns Garten lag: Gemüsebeete, Obstbäume, Kräuterstauden, durch die Mauer geschützt vor dem kalten Wind, der manchmal von den nahen Bergen herüberwehte. Staubfinger hatte oft die Mägde unterhalten, wenn sie die Beete hackten. Scheinwerfer gab es in dem Garten nicht, auch keine Wache (wer stahl schon Gemüse?), und ins Haus führte vom Hof aus nur eine vergitterte Tür, die nachts verschlossen war. Außerdem lag der Hundezwinger gleich hinter der Mauer, aber er war leer, wie sich zeigte, als Staubfinger sich über die Mauer schwang. Die Hunde waren nicht zurückgekommen aus den Hügeln. Sie waren klüger gewesen, als Staubfinger gedacht hatte, und Basta hatte offenbar noch keine neuen beschafft. Dumm von ihm. Dummer Basta.
Staubfinger winkte dem Jungen, ihm zu folgen, und lief an den sorgsam gepflegten Beeten vorbei, bis er vor der vergitterten Hintertür stand. Der Junge sah ihn fragend an, als er das schwere Gitter sah, doch Staubfinger legte nur den Finger an die Lippen und blickte hinauf zu einem der Fenster im zweiten Stock. Die Läden, schwarz von der Nacht, standen offen. Staubfinger ließ ein Miauen hören, das so echt klang, dass gleich mehrere Katzen darauf antworteten, doch hinter dem Fenster rührte sich nichts. Staubfinger stieß einen unterdrückten Fluch aus, lauschte einen Moment in die Nacht - und ahmte den schrillen Schrei eines Raubvogels nach. Farid zuckte zusammen und presste sich gegen die Hausmauer. Diesmal regte sich oben hinter dem Fenster etwas. Eine Frau beugte sich heraus. Als Staubfinger ihr zuwinkte, winkte sie zurück - und verschwand wieder.
»Guck nicht so!«, raunte Staubfinger, als er Farids besorgten Blick bemerkte. »Wir können ihr trauen. Viele der Frauen sind nicht gut auf Capricorn und seine Männer zu sprechen, manche sind nicht mal freiwillig hier. Aber sie haben alle Angst vor ihm, Angst, dass sie ihre Arbeit verlieren, Angst, dass er ihren Familien das Dach über dem Kopf ansteckt, wenn sie über ihn reden und das, was hier vorgeht, oder dass er Basta mit seinem Messer vorbeischickt ... Resa kennt diese Sorgen nicht, sie hat keine Familie.« Nicht mehr, fügte er in Gedanken hinzu.
Die Tür hinter dem Gitter öffnete sich und die Frau aus dem Fenster - Resa - tauchte mit besorgtem Gesicht hinter den Stäben auf. Sie sah blass aus unter dem dunkelblonden Haar.
»Wie geht es dir?« Staubfinger trat an das Gitter und schob die Hand durch die Stäbe. Resa drückte mit einem Lächeln seine Finger - und wies mit dem Kopf auf den Jungen.
»Das ist Farid.« Staubfinger senkte die Stimme. »Man könnte sagen, er ist mir zugelaufen. Aber du kannst ihm trauen. Er mag Capricorn ebenso wenig wie wir.«
Resa nickte, sah ihn vorwurfsvoll an - und schüttelte den Kopf.
»Ja, ich weiß, es ist nicht klug, dass ich wieder hergekommen bin. Du hast gehört, was passiert ist?« Staubfinger konnte nicht verhindern, dass so etwas wie Stolz aus seiner Stimme klang. »Sie haben gedacht, ich lasse mir alles gefallen, aber so ist es nicht. Ein Buch gibt es noch und ich werde es mir holen! Guck mich nicht so an. Weißt du, wo Capricorn es aufbewahrt?«
Resa schüttelte den Kopf. Hinter ihnen raschelte es, Staubfinger fuhr herum, aber es war nur eine Maus, die über den stillen Hof huschte. Resa zog einen Stift und ein Blatt Papier aus der Tasche ihres Morgenmantels. Sie schrieb langsam, ordentlich, sie wusste, dass es Staubfinger leichter fiel, Großbuchstaben zu lesen. Sie war es gewesen, die ihn das Schreiben und Lesen gelehrt hatte, damit er sich mit ihr unterhalten konnte.
Es dauerte wie immer eine Weile, bis die Buchstaben für Staubfinger Sinn gaben. Er war jedes Mal aufs Neue stolz auf sich, wenn die spinnengliedrigen Zeichen sich endlich zu Wörtern zusammenfügten und er ihnen ihr Geheimnis entreißen konnte. »Ich werde mich umsehen«, las er leise. »Gut. Aber sei vorsichtig. Ich will nicht, dass du deinen hübschen Hals riskierst.« Noch einmal beugte er sich über den Zettel. »Was meinst du mit Die Elster hat jetzt Bastas Schlüssel?«
Er gab ihr den Zettel zurück. Farid beobachtete Resas schreibende Hand so gebannt, als sehe er jemandem beim Zaubern zu. »Ich glaube, du musst es ihm auch beibringen!«, raunte Staubfinger durch das Gitter. »Siehst du, wie er dich anstarrt?«
Resa hob den Kopf und lächelte Farid zu. Verlegen blickte er zur Seite. Resa fuhr mit dem Finger um ihr Gesicht.
»Du findest, dass er ein hübscher Junge ist?« Staubfinger verzog spöttisch den Mund, während Farid vor Verlegenheit nicht wusste, wo er hinsehen sollte. »Und was ist mit mir? Ich bin schön wie der Mond? Hm, was soll ich von dem Kompliment halten? Meinst du damit, dass ich fast ebenso viele Narben habe?«
Resa presste sich die Hand auf die Lippen. Es war leicht, sie zum Lachen zu bringen, sie lachte wie ein kleines Mädchen. Nur dabei konnte man ihre Stimme hören.
Schüsse zerrissen die Nacht. Resa umklammerte das Gitter und Farid kauerte sich erschrocken am Fuß der Mauer zusammen. Staubfinger zog ihn wieder hoch. »Das ist nichts!«, flüsterte er. »Die Wachen schießen nur wieder auf die Katzen. Das tun sie immer, wenn sie sich langweilen.«
Der Junge sah ihn ungläubig an, aber Resa schrieb weiter. »Sie hat sie ihm abgenommen«, las Staubfinger. »Zur Strafe. Na, das wird Basta aber gar nicht gefallen. Mit diesen Schlüsseln hat er angegeben, als dürfte er auf Capricorns Augäpfel aufpassen.«
Resa tat, als zöge sie ein Messer aus dem Gürtel und machte ein so finsteres Gesicht, dass Staubfinger fast laut auflachte. Schnell sah er sich um, doch der Hof lag still wie ein Friedhof zwischen den hohen Mauern. »O ja, das kann ich mir vorstellen, dass Basta wütend ist«, flüsterte er. »Da tut er alles, um Capricorn zu gefallen, schlitzt Hälse und Gesichter auf, und dann so etwas.«
Resa griff noch einmal nach dem Zettel. Wieder dauerte es schmerzhaft lange, bis er ihre klaren Buchstaben entziffert hatte. »So, du hast von Zauberzunge gehört. Wer er ist, willst du wissen? Nun, er säße immer noch in Capricorns Verschlagen, wenn ich nicht gewesen wäre. Was noch? Frag Farid. Er hat den Jungen aus seiner Geschichte gepflückt wie einen reifen Apfel. Zum Glück hat er keinen von den Fleisch fressenden Geistern hergelockt, von denen der Junge ständig faselt. Ja, er ist ein sehr guter Vorleser, viel besser als Darius. Du siehst ja, Farid hinkt nicht, sein Gesicht sah wohl auch schon immer so aus, und seine Stimme hat er ebenfalls noch - auch wenn es zurzeit nicht den Anschein hat.«
Farid warf ihm einen bösen Blick zu.
»Wie Zauberzunge aussieht? Basta hat ihm noch nicht das Gesicht verziert, so viel verrate ich dir.«
Über ihnen knarrte ein Fensterladen. Staubfinger presste sich gegen die Gitterstäbe. Nur der Wind, dachte er zunächst, nichts als der Wind. Farid starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Vermutlich hörte sich für ihn das Knarren schon wieder nach einem Dämon an, doch das Wesen, das sich aus dem Fenster über ihnen lehnte, war aus Fleisch und Blut: Mortola, oder die Elster, wie sie heimlich genannt wurde. Alle Mägde unterstanden ihr, vor den Augen und Ohren der Elster war nichts sicher, nicht einmal die Geheimnisse, die die Frauen sich nachts in ihren Schlafräumen zuflüsterten. Selbst Capricorns Geldschränke waren besser untergebracht als seine Mägde. Sie alle schliefen in Capricorns Haus, immer zu viert in einem Raum, bis auf die, die sich mit einem seiner Männer eingelassen hatten und mit ihm in einem der verlassenen Häuser wohnten.