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Die Elster lehnte sich über den Sims und atmete die kühle Nachtluft ein. Endlos lange hielt sie ihre Nase aus dem Fenster, so lange, dass Staubfinger ihr am liebsten den dürren Hals umgedreht hätte, doch schließlich schien sie jeden Winkel ihres Körpers mit Frischluft gefüllt zu haben und zog das Fenster wieder zu.

»Ich muss gehen, aber ich komme morgen Abend wieder. Vielleicht hast du ja bis dahin etwas über das Buch in Erfahrung gebracht!« Staubfinger drückte noch einmal Resas Hand. Ihre Finger waren rau vom Waschen und Putzen. »Ich weiß, ich hab es schon mal gesagt, trotzdem: Sei vorsichtig und halte dich von Basta fern.«

Resa zuckte die Schultern. Was sollte sie auch sonst, auf einen so überflüssigen Rat hin, tun? Fast alle Frauen im Dorf hielten sich von Basta fern, doch er hielt sich nicht fern von ihnen.

Staubfinger wartete vor der vergitterten Tür, bis Resa wieder in ihrem Zimmer war. Mit einer Kerze gab sie ihm durchs Fenster ein Zeichen.

Der Posten auf dem Parkplatz hatte immer noch die Kopfhörer über den Ohren. Gedankenverloren tanzte er zwischen den Wagen, die Flinte in den ausgestreckten Händen, als hielte er ein Mädchen im Arm. Als er irgendwann doch noch in ihre Richtung sah, hatte die Nacht Staubfinger und Farid längst wieder verschluckt.

Auf dem Rückweg zu ihrem Versteck begegneten sie niemandem, nur einem Fuchs, der mit hungrigen Augen davonhuschte. Zwischen den Mauern des niedergebrannten Hauses hockte Gwin und verschlang einen Vogel. Die Federn leuchteten hell in der Dunkelheit.

»War sie schon immer stumm?«, fragte der Junge, als Staubfinger sich unter den Bäumen zum Schlafen ausstreckte.

»Solange ich sie kenne«, antwortete Staubfinger und wandte ihm den Rücken zu. Farid legte sich neben ihn. So hatte er es von Anfang an gehalten, und sooft Staubfinger auch zur Seite rückte -wenn er aufwachte, lag der Junge immer dicht neben ihm.

»Das Foto in deinem Rucksack«, sagte er. »Es ist von ihr.«

»Und?«

Der Junge schwieg.

»Falls du ein Auge auf sie geworfen hast«, sagte Staubfinger spöttisch, »vergiss es. Sie ist eine von Capricorns Lieblingsmägden. Sie darf ihm sogar das Frühstück bringen und ihm beim Ankleiden helfen.«

»Wie lange ist sie schon bei ihm?«

»Fünf Jahre«, antwortete Staubfinger. »Und in all den Jahren hat Capricorn ihr nicht einmal erlaubt, das Dorf zu verlassen.

Selbst aus dem Haus darf sie nur selten. Sie ist zweimal fortgelaufen, doch sie ist nie weit gekommen. Einmal hat eine Schlange sie gebissen. Sie hat mir nie erzählt, wie Capricorn sie bestraft hat, aber ich weiß, dass sie seither nie wieder versucht hat wegzulaufen.«

Hinter ihnen raschelte es, Farid fuhr auf, doch es war nur Gwin. Der Marder leckte sich das Maul, als er dem Jungen auf den Bauch sprang. Lachend zupfte Farid ihm eine Feder aus dem Fell. Gwin schnupperte hektisch an seinem Kinn, an seiner Nase, als habe er den Jungen vermisst, dann verschwand er wieder in der Nacht.

»Er ist wirklich ein netter Marder!«, flüsterte Farid.

»Ist er nicht«, sagte Staubfinger und zog die dünne Decke bis ans Kinn. »Wahrscheinlich mag er dich, weil du wie ein Mädchen riechst.«

Darauf antwortete Farid nur mit einem langen Schweigen.

»Sie sieht ihr ähnlich«, sagte er, als Staubfinger gerade dabei war einzunicken. »Der Tochter von Zauberzunge. Sie hat den gleichen Mund und die gleichen Augen und sie lacht auch wie sie.«

»Unsinn!«, sagte Staubfinger. »Da gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie haben beide blaue Augen, das ist alles. So was kommt hier öfter vor. Und nun schlaf endlich.«

Der Junge gehorchte. Er hüllte sich in den Pullover, den Staubfinger ihm gegeben hatte, und drehte ihm den Rücken zu. Bald ging sein Atem so regelmäßig wie der eines Säuglings. Staubfinger aber lag die ganze Nacht wach und starrte Löcher in die Dunkelheit.

Geheimnisse

»Wenn ich zum Ritter geschlagen werden sollte«, sagte Wart und starrte verträumt ins Feuer, »dann würd' ich ... zu Gott beten, dass er mir alles Böse auf der Welt schickt, nur mir allein. Wenn ich's besiegen würde, wäre nichts mehr übrig, und wenn's mich besiegte, hätt' ich ganz allein dafür zu leiden.«

»Das wäre außerordentlich vermessen von dir«, sagte Merlin, »und du würdest besiegt werden. Und du müßtest dafür leiden.«

T.H. White, Der König auf Camelot

Capricorn empfing Meggie und Fenoglio in der Kirche, etwa ein Dutzend seiner Männer war bei ihm. Er saß in dem neuen, rußschwarzen Ledersessel, den sie unter Mortolas Aufsicht aufgestellt hatten. Diesmal war sein Anzug zur Abwechslung nicht rot, sondern blassgelb wie das Morgenlicht, das durch die Fenster hereinsickerte. Er hatte sie früh holen lassen, draußen über den Hügeln hing noch der Nebel, und die Sonne schwamm darin wie ein Ball in trübem Wasser.

»Bei allen Buchstaben des Alphabets!«, flüsterte Fenoglio, als er mit Meggie den Mittelgang der Kirche hinunterschritt. Basta dicht hinter sich. »Er sieht wirklich haargenau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. >Farblos wie ein Glas Milch< - ja, ich glaube, so habe ich mich ausgedrückt.«

Er begann schneller zu gehen, als könnte er es nicht erwarten, sich sein Geschöpf aus nächster Nähe anzusehen. Meggie konnte kaum Schritt mit ihm halten und Basta riss ihn zurück, bevor er die Treppe erreicht hatte. »He, was soll das werden?«, zischte er ihm zu. »Nicht so eilig, und verbeug dich gefälligst, verstanden?«

Fenoglio warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und blieb kerzengerade stehen. Basta holte mit der Hand aus, doch Capricorn schüttelte fast unmerklich den Kopf und Basta ließ die Hand sinken wie ein getadeltes Kind. Neben Capricorns Sessel, die Arme wie Flügel auf dem Rücken zusammengelegt, stand Mortola.

»Also wirklich, Basta, ich frage mich immer noch, was du dir dabei gedacht hast, ihren Vater nicht mitzubringen!«, sagte Capricorn, während er seinen Blick von Meggie zu Fenoglios Schildkrötengesicht wandern ließ.

»Er war nicht da, ich habe es euch doch erklärt.« Bastas Stimme klang gekränkt. »Sollte ich dasitzen wie eine Kröte am Teich und auf ihn warten? Er wird bald ganz freiwillig hier hereinstolpern! Wir haben doch alle gesehen, mit was für einer Affenliebe er an dem Gör hängt. Ich verwette mein Messer darauf: Noch heute, spätestens morgen taucht er hier auf.«

»Dein Messer? Das ist dir vor kurzem schon einmal abhanden gekommen.« Der Spott in Mortolas Stimme ließ Basta die Lippen aufeinander pressen.

»Du lässt nach, Basta!«, stellte Capricorn fest. »Dein Hitzkopf vernebelt dir die Gedanken. Aber kommen wir zu deinem anderen Mitbringsel.«

Fenoglio hatte nicht einmal den Blick von ihm gewendet. Er musterte Capricorn wie ein Künstler, der nach langen Jahren ein Bild wiedersieht, das er gemalt hat, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gefiel ihm, was er sah. Nicht die Spur von Angst konnte Meggie in seinen Augen entdecken, nur ungläubige Neugier - und Zufriedenheit, Zufriedenheit mit sich selbst. Capricorn gefiel dieser Blick nicht, auch das sah sie. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn so furchtlos musterte, wie der alte Mann es tat.

»Basta hat mir ein paar seltsame Dinge über Sie erzählt, Herr ...«

»Fenoglio.«

Meggie beobachtete Capricorns Gesicht. Hatte er je den Namen gelesen, der auf dem Einband von Tintenherz stand, gleich über dem Titel?

»Selbst seine Stimme klingt, wie ich sie mir vorgestellt hatte!«, flüsterte Fenoglio ihr zu. Entzückt wie ein Kind vor dem Löwenkäfig kam er ihr vor - nur dass Capricorn nicht in einem Käfig saß. Ein Blick von ihm, und Basta stieß dem alten Mann den Ellbogen so grob in den Rücken, dass er nach Luft schnappte.