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Der Junge blickte ihn so verletzt an, als hätte er ihm die Hand ins Feuer gehalten. »Aber sie sind gefesselt!«, protestierte er. »Was gibt es da aufzupassen? Meine Knoten hat noch nie jemand aufbekommen, Ehrenwort! Bitte. Ich will mit dir mitkommen! Ich kann Wache stehen, oder die Posten ablenken. Ich kann mich sogar in Capricorns Haus schleichen! Ich bin leiser als Gwin!«

Doch Staubfinger schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er barsch. »Heute geh ich allein. Und wenn ich jemanden brauche, der mir auf Schritt und Tritt nachläuft, schaff ich mir einen Hund an.«

Dann ließ er den Jungen stehen.

Es war ein heißer Tag. Der Himmel über den Hügeln war blau und ohne eine einzige Wolke. Es würden noch Stunden vergehen, bis es dunkel wurde.

In Capricorns Haus

Im Traum bin ich manchmal durch dunkle Häuser gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, dunkle, entsetzliche Häuser. Schwarze Zimmer, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte ...

Astrid Lindgren, Mio, mein Mio

Zwei schmale Metallbetten an einer weiß getünchten Wand übereinander, ein Schrank, ein Tisch vor dem Fenster, ein Stuhl, ein leeres Brett an der Wand, auf dem nur eine Kerze lag. Meggie hatte gehofft, dass man durch das Fenster die Straße sehen konnte oder wenigstens den Parkplatz, aber man blickte nur in den Hof hinunter. Ein paar von Capricorns Mägden beugten sich über die Beete und rupften Unkraut, und in einer Ecke pickten Hühner in einem drahtumzäumten Auslauf. Die Mauer, die den Hof umgab, war hoch, hoch wie eine Gefängnismauer.

Fenoglio saß auf dem unteren Bett und starrte düster auf den staubigen Boden. Die Holzdielen knarrten, wenn man darauf trat. Vor der Tür schimpfte Flachnase herum.

»Was soll ich? Nein, such dir jemand anders, verflucht noch mal! Da schleich ich ja noch lieber rüber ins nächste Dorf, leg jemandem Benzinlappen vor die Tür oder häng einen toten Hahn ans Fensterkreuz. Meinetwegen springe ich sogar mit 'ner Teufelsmaske vor den Fenstern rum, wie Cockerell es letzten Monat machen musste. Aber ich stehe mir nicht die Beine in den Bauch, um einen alten Mann und ein kleines Mädchen zu bewachen! Hol dir irgendeinen Jungen, die sind froh, wenn sie mal was anderes machen können als Autos putzen.«

Aber Basta ließ nicht mit sich reden. »Nach dem Abendessen wirst du abgelöst!«, sagte er, dann war er fort. Meggie hörte, wie sich seine Schritte entfernten, den langen Flur entlang, es waren fünf Türen bis zur Treppe, und an ihrem Fuß ging es links zur Eingangstür ... sie hatte sich den Weg genau gemerkt. Aber wie sollte sie an Flachnase vorbeikommen? Noch einmal trat sie ans Fenster. Schon beim Hinaussehen wurde ihr schwindelig. Nein, da konnte sie nicht hinunterklettern. Den Hals würde sie sich brechen.

»Lass das Fenster bloß auf!«, sagte Fenoglio hinter ihr. »Hier drin ist es so heiß, dass man zerläuft.«

Meggie setzte sich neben ihn aufs Bett. »Ich werde weglaufen!«, flüsterte sie ihm zu. »Sobald es dunkel wird.« Der alte Mann blickte sie ungläubig an, dann schüttelte er sehr energisch den Kopf. »Bist du verrückt? Das ist viel zu gefährlich!«

Draußen auf dem Flur schimpfte Flachnase immer noch vor sich hin.

»Ich werd sagen, dass ich zum Klo muss.« Meggie presste ihren Rucksack an sich. »Und dann renn ich los.«

Fenoglio fasste sie an den Schultern. »Nein!«, flüsterte er noch einmal mit Nachdruck. »Nein, das tust du nicht! Uns wird schon etwas einfallen! Es ist mein Beruf, mir etwas einfallen zu lassen, hast du das schon vergessen?«

Meggie presste die Lippen zusammen. »Ja, ja, schon gut!«, murmelte sie. Dann stand sie auf und schlenderte zurück zum Fenster.

Draußen dämmerte es schon.

Ich werd es trotzdem versuchen, dachte sie, während Fenoglio sich hinter ihr mit einem Seufzer auf dem schmalen Bett ausstreckte. Ich werd nicht den Köder spielen! Ich werde weglaufen, bevor sie Mo auch noch gefangen haben.

Und während sie auf die Dunkelheit wartete, schob sie zum hundertsten Mal die Frage fort, die sich immer wieder in ihren Kopf drängte:

Wo war Mo?

Warum war er noch nicht gekommen?

Leichtsinn

»Du glaubst also, daß dies eine Falle ist?« fragte der Graf.

»Ich halte immer alles für eine Falle, solange das Gegenteil nicht erwiesen ist«, antwortete der Prinz. »Deshalb bin ich noch am Leben.«

William Goldman, Die Brautprinzessin

Es blieb heiß, als die Sonne untergegangen war. Kein Wind regte sich in der Dunkelheit und die Glühwürmchen tanzten über dem verdorrten Gras, als Staubfinger sich wieder zu Capricorns Dorf schlich.

In dieser Nacht lungerten zwei Wachtposten auf dem Parkplatz herum, und keiner von ihnen trug einen Kopfhörer, also beschloss Staubfinger, sich auf anderen Wegen Capricorns Haus zu nähern. Auf der anderen Seite des Dorfes gab es Gassen, die vor mehr als hundert Jahren von dem Erdbeben, das auch die letzten Einwohner vertrieben hatte, so gründlich zerstört worden waren, dass Capricorn sie nicht wieder hatte instand setzen lassen. Diese Gassen waren blockiert vom Schutt eingestürzter Mauern, es war nicht ungefährlich, dort herumzuklettern. Immer wieder stürzte etwas ein, auch nach all den Jahren noch, und Capricorns Männer mieden diesen Teil des Dorfes, wo hinter verrotteten Haustüren auf so manchem Tisch noch das schmutzige Geschirr längst verschwundener Bewohner stand. Hier gab es keine Scheinwerfer, und selbst die Posten verirrten sich selten her.

Auf der Gasse, die Staubfinger nahm, türmten sich zerbrochene Dachschindeln und Steine mehr als kniehoch, sie rutschten ihm unter den Füßen weg, und als er wieder einmal in die Nacht lauschte, besorgt, dass der Lärm doch jemanden herbeigerufen hatte, sah er einen Wachtposten zwischen den eingestürzten Häusern auftauchen. Sein Mund wurde trocken vor Angst, während er sich hinter die nächste Mauer duckte. Schwalbennester klebten daran, eins neben dem anderen. Der Wachtposten summte vor sich hin, während er näher kam. Staubfinger kannte ihn, er war schon viele Jahre bei Capricorn. Basta hatte ihn angeworben, in einem anderen Dorf, in einem anderen Land. Nicht immer hatte Capricorn in diesen Hügeln gehaust: Es hatte andere Orte gegeben, einsam gelegene Dörfer wie dieses, Häuser, verlassene Gehöfte, einmal sogar eine Burg. Aber irgendwann kam immer der Tag, an dem das Netz aus Angst, das Capricorn so geübt zu spinnen verstand, riss und die Polizei aufmerksam wurde. Irgendwann würde es auch hier passieren.

Der Wachtposten blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch zog Staubfinger in die Nase. Er wendete den Kopf -und sah eine Katze, ein mageres weißes Ding, das zwischen den Steinen hockte. Wie erstarrt saß sie da und sah ihn an mit ihren grünen Augen. »Schscht!«, hätte er gerne geflüstert. »Sehe ich vielleicht gefährlich aus? Nein, aber der da draußen, der erschießt zuerst dich und dann bin ich an der Reihe.« Die grünen Augen starrten ihn an. Der weiße Schwanz begann hin und her zu zucken. Staubfinger sah auf seine staubigen Stiefel, auf ein verbogenes Stück Eisen zwischen den Steinen, nur nicht auf die Katze. Tiere mögen es gar nicht, wenn man ihnen in die Augen sieht. Gwin bleckte jedes Mal die nadelspitzen Zähne, wenn er es tat.

Der Wachtposten begann wieder zu summen, die Zigarette zwischen den Lippen. Dann endlich, als es Staubfinger schon vorkam, als würde er für den Rest seines Lebens hinter der eingefallenen Mauer hocken müssen, drehte der Posten sich um und schlenderte davon. Staubfinger wagte sich nicht zu rühren, bis die Schritte verklungen waren. Als er sich steifbeinig aufrichtete, sprang die Katze fauchend davon und er stand lange da zwischen den toten Häusern und wartete darauf, dass sein Herz wieder langsamer schlug.