Kein weiterer Posten begegnete ihm, bis er sich über Capricorns Mauer schwang. Der Geruch von Thymian drang ihm entgegen, schwer, wie er sonst nur am Tag in der Luft hing. Alles schien zu duften in dieser heißen Nacht, selbst die Tomatenpflanzen und die Salatköpfe. Auf dem Beet unmittelbar vor dem Haus wuchsen die Giftpflanzen. Die Elster pflegte sie persönlich. Schon so mancher Todesfall im Dorf hatte nach Oleander oder Bilsenkraut gerochen.
Das Fenster zu dem Zimmer, in dem Resa schlief, stand offen, wie immer. Als Staubfinger Gwins zorniges Keckem nachahmte, winkte ihm aus dem offenen Fenster eine Hand zu und verschwand rasch wieder. Wartend lehnte er sich gegen die vergitterte Tür. Der Himmel über ihm war übersät von Sternen, es schien kaum Platz für die Nacht zu sein. Bestimmt weiß sie etwas, dachte er, aber was, wenn sie mir erzählt, dass Capricorn das Buch in einen seiner Geldschränke gesperrt hat?
Die Tür hinter dem Gitter öffnete sich. Sie knarrte jedes Mal so, als wolle sie sich über die nächtliche Störung beschweren. Staubfinger wandte sich um und blickte in das Gesicht einer Fremden. Es war ein junges Mädchen, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Ihre Wangen waren noch pausbäckig wie die eines Kindes.
»Wo ist Resa?« Staubfinger umklammerte das Gitter. »Was ist mit ihr?«
Das Mädchen schien starr vor Angst. Es starrte seine Narben an, als hätte es noch nie ein zerschnittenes Gesicht gesehen.
»Hat sie dich geschickt?« Staubfinger hätte am liebsten die Hände durch das Gitter gesteckt, um die dumme kleine Gans zu schütteln. »Nun sag doch schon. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Er hätte Resa nicht bitten dürfen ihm zu helfen. Er hätte sich selbst umsehen müssen. Wie hatte er sie nur in Gefahr bringen können? »Haben sie sie eingesperrt? Nun rede doch endlich!«
Das Mädchen starrte über seine Schulter und wich einen Schritt zurück. Staubfinger fuhr herum, um zu sehen, was sie sah - und blickte in Bastas Gesicht.
Wo hatte er nur seine Ohren gehabt? Basta war berüchtigt für die Lautlosigkeit seiner Schritte, aber Flachnase, der neben ihm stand, war bestimmt kein Meister im Anschleichen. Und Basta hatte noch jemanden mitgebracht: Mortola stand neben ihm. Also hatte sie in der letzten Nacht doch nicht nur wegen der frischen Luft den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Oder hatte Resa ihn etwa an sie verraten? Der Gedanke tat weh.
»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du dich noch mal hertraust!«, schnurrte Basta, während er ihn mit der flachen Hand gegen das Gitter stieß. Staubfinger spürte, wie die Stäbe sich in seinen Rücken drückten.
Flachnase lächelte breit wie ein Kind an Weihnachten, so lächelte er immer, wenn er jemandem Angst machen durfte.
»Was hast du mit unsrer schönen Resa zu schaffen?« Basta ließ sein Messer aufschnappen, und Flachnases Lächeln wurde noch etwas breiter, als er sah, wie die Angst Schweißperlen auf Staubfingers Stirn trieb. »Nun, ich hab es ja schon immer gesagt«, fuhr Basta fort, während er die Messerspitze langsam Staubfingers Brust hinaufwandern ließ. »Der Feuerfresser ist verliebt in Resa, mit den Augen würde er sie verschlucken, wenn er könnte, aber die anderen wollten mir nicht glauben. Trotzdem - dass du dich hierher traust, wo du doch so ein Angsthase bist.«
»Er ist eben verliebt«, sagte Flachnase und lachte.
Aber Basta schüttelte nur den Kopf. »Nein, aus Liebe war der Schmutzfinger nicht hergekommen, dazu ist er ein viel zu kalter Fisch. Er ist wegen dem Buch hier, stimmt's? Du hast immer noch Sehnsucht nach flatternden Feen und stinkenden Kobolden.« Basta strich fast zärtlich mit dem Messer an Staubfingers Kehle entlang.
Staubfinger vergaß, wie man atmet. Er erinnerte sich nicht mehr.
»Geh zurück auf dein Zimmer!«, fuhr die Elster das Mädchen hinter ihm an. »Was stehst du da noch herum?« Staubfinger hörte das Rascheln eines Kleides, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Bastas Messer saß immer noch an seinem Hals, aber als der die Spitze gerade noch etwas höher wandern lassen wollte, griff die Elster ihm in den Arm. »Schluss jetzt!«, sagte sie barsch. »Lass die Spielchen, Basta.«
»Ja, der Boss hat gesagt, wir sollen ihn heil zu ihm bringen!« Flachnases Stimme war anzuhören, wie wenig er von diesem Befehl hielt.
Basta ließ die Messerspitze ein letztes Mal an Staubfingers Hals herunterwandern. Dann ließ er es mit einer blitzschnellen Bewegung einschnappen.
»Wirklich schade!«, sagte Basta. Staubfinger spürte seinen Atem auf der Haut. Bastas Atem roch nach Minze, frisch und scharf. Angeblich hatte ihm irgendwann ein Mädchen, das er küssen wollte, gesagt, dass er aus dem Mund stank. Dem Mädchen war das nicht bekommen, doch seither kaute Basta von früh bis spät Pfefferminzblätter. »Mit dir konnte man immer gut spielen, Staubfinger«, sagte er, während er zurücktrat, das zugeschnappte Messer immer noch in der Hand.
»Bringt ihn zur Kirche!«, befahl Mortola. »Ich sage Capricorn Bescheid.«
»Weißt du, dass der Boss sehr wütend auf deine stumme Freundin ist?«, raunte Flachnase Staubfinger zu, während er und Basta ihn in die Mitte nahmen. »Sie war immer so was wie ein Liebling von ihm.«
Einen Atemzug lang fühlte Staubfinger sich fast gut.
Resa hatte ihn also nicht verraten.
Er hätte sie trotzdem nicht um Hilfe bitten dürfen. Niemals.
Leise Worte
Sie mochte seine Tränen gern, und sie streckte ihren schönen Finger aus und ließ sie darüber rollen. Ihre Stimme war so leise, dass er zuerst nicht verstehen konnte, was sie sagte. Dann verstand er. Sie sagte, daß sie dächte, sie könnte wieder gesund werden, wenn Kinder an Feen glauben.
James M. Barrie, Peter Pan
Meggie versuchte es wirklich.
Sobald es dunkel wurde, hämmerte sie mit der Faust gegen die Tür. Fenoglio fuhr aus dem Schlaf, aber bevor er sie aufhalten konnte, hatte Meggie dem Posten vor der Tür schon zugerufen, dass sie zum Klo müsse. Der Mann, der Flachnase abgelöst hatte, war ein kurzbeiniger Kerl mit abstehenden Ohren, der sich die Langeweile dadurch vertrieb, dass er mit einer Zeitung Motten totschlug, die sich ins Haus verirrt hatten. Mehr als ein Dutzend klebte schon an der weißen Wand, als er Meggie auf den Flur hinausließ.
»Ich muss auch mal!«, rief Fenoglio, vielleicht wollte er Meggie auf die Art doch noch von ihrem Vorsatz abbringen, aber der Wächter schlug ihm die Tür vor der Nase zu. »Einer nach dem anderen!«, grunzte er den alten Mann an. »Und wenn du dich nicht beherrschen kannst, pinkelst du eben aus dem Fenster.«
Er nahm seine Zeitung mit, als er Meggie zum Klo brachte. Auf dem Weg schlug er drei weitere Motten tot und einen Schmetterling, der rastlos zwischen den kahlen Wänden umherflatterte. Schließlich stieß er eine Tür auf, die letzte Tür vor der Treppe, die nach unten führte. Nur ein paar Schritte!, dachte Meggie. Die Stufen hinunter spring ich bestimmt schneller als er.
»Bitte, Meggie, du musst das mit dem Weglaufen vergessen!«, hatte Fenoglio ihr immer wieder ins Ohr geraunt. »Du wirst dich verirren. Da draußen ist kilometerweit nichts als Wildnis! Dein Vater würde dich übers Knie legen, wenn er wüsste, was du vorhast.«
Würde er nicht, hatte Meggie gedacht. Doch als sie in dem kleinen Raum stand, in dem nichts als ein Klo und ein Eimer standen, verließ sie doch fast der Mut. Es war so dunkel draußen, so furchtbar dunkel. Und es war ein weiter Weg bis hinunter zur Eingangstür von Capricorns Haus.