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»Ich muss es versuchen!«, flüsterte sie, bevor sie die Tür aufriss. »Ich muss!«

Der Wächter fing sie schon auf der fünften Treppenstufe ein. Wie einen Sack trug er sie zurück. »Beim nächsten Mal bring ich dich zum Chef!«, sagte er, als er sie zurück in das Zimmer stieß. »Der weiß bestimmt eine schöne Strafe für dich.«

Fast eine halbe Stunde lang schluchzte sie vor sich hin, während Fenoglio neben ihr saß und unglücklich vor sich hin starrte. »Ist ja schon gut!«, brummte er immer wieder, aber es war nichts gut, gar nichts.

»Wir haben nicht mal eine Lampe!«, schluchzte sie irgendwann. »Und meine Bücher haben sie mir auch weggenommen.«

Daraufhin griff Fenoglio unter sein Kissen und legte ihr eine Taschenlampe in den Schoß. »Die habe ich unter meiner Matratze gefunden«, flüsterte er. »Zusammen mit ein paar Büchern. Es sah fast aus, als hätte sie jemand dort versteckt.«

Darius, der Vorleser. Meggie konnte sich noch gut daran erinnern, wie der kleine, dünne Mann mit seinem Stapel Bücher durch Capricorns Kirche gehastet war. Bestimmt gehörte die Taschenlampe ihm. Wie lange Capricorn ihn wohl in dem kleinen kahlen Raum gefangen gehalten hatte?

»Im Schrank lag auch noch eine Wolldecke, ich habe sie dir auf das obere Bett gelegt«, raunte Fenoglio. »Ich komme da nicht hinauf. Als ich es versucht habe, hat das Bett geschwankt wie ein Schiff auf hoher See.«

»Ich schlafe sowieso lieber oben.« Meggie fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Sie hatte keine Lust mehr zu weinen. Es nützte ohnehin nichts.

Fenoglio hatte ihr zusammen mit der Decke auch ein paar von Darius' Büchern auf die Matratze gelegt. Behutsam legte Meggie sie nebeneinander. Es waren fast alles Erwachsenenbücher: ein zerlesener Krimi, ein Buch über Schlangen, eins über Alexander den Großen, die Odyssee. Ein Märchenbuch und Peter Pan, das waren die einzigen Kinderbücher - und Peter Pan hatte sie schon mindestens ein halbes Dutzend Mal gelesen.

Draußen schlug der Wächter wieder mit seiner Zeitung zu, und unter ihr wälzte Fenoglio sich unruhig auf dem schmalen Bett herum. Meggie wusste, dass sie nicht würde schlafen können. Sie brauchte es gar nicht erst zu versuchen. Noch einmal musterte sie die fremden Bücher. Lauter verschlossene Türen. Durch welche sollte sie gehen? Hinter welcher würde sie alles vergessen, Basta und Capricorn, Tintenherz, sich selbst, einfach alles? Sie schob den Krimi zur Seite, das Buch über Alexander den Großen, zögerte -und griff nach der Odyssee. Es war ein zerlesenes Bändchen, Darius musste es sehr gemocht haben. Er hatte sogar Zeilen unterstrichen, eine so heftig, dass der Stift fast das Papier zerrissen hatte: Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte. Meggie blätterte unschlüssig in den abgegriffenen Seiten, dann schlug sie das Buch wieder zu und legte es zur Seite. Nein. Sie kannte die Geschichte gut genug, um zu wissen, dass sie vor diesen Helden fast ebenso viel Angst hatte wie vor Capricorns Männern. Sie wischte eine Träne fort, die ihr immer noch an der Wange hing, und fuhr mit der Hand über die anderen Bücher. Märchen. Sie mochte Märchen nicht besonders, aber das Buch sah sehr schön aus. Die Seiten knisterten, als Meggie in ihnen blätterte. Sie waren dünn wie Transparentpapier, bedeckt von winzigen Buchstaben. Es gab prächtige Bilder von Zwergen und Feen, und die Geschichten erzählten von mächtigen Geschöpfen, riesengroß, bärenstark, unsterblich sogar, doch alle waren heimtückisch: Die Riesen fraßen Menschen, die Zwerge gierten nach Gold und die Feen waren boshaft und nachtragend. Nein. Meggie richtete die Taschenlampe auf das letzte Buch. Peter Pan.

Die Fee darin war auch nicht sehr nett, aber die Welt, die zwischen diesen Buchdeckeln auf sie wartete, war ihr vertraut. Vielleicht war das in einer so dunklen Nacht genau das Richtige. Draußen schrie ein Käuzchen, sonst war es still in Capricorns Dorf. Fenoglio murmelte etwas im Schlaf und begann zu schnarchen. Meggie kroch unter die kratzige Decke, zerrte Mos Pullover aus ihrem Rucksack und schob ihn sich unter den Kopf.

»Bitte!«, flüsterte sie, während sie das Buch aufschlug. »Bitte bring mich hier fort, nur für eine Stunde oder zwei, aber bitte, bring mich weit, weit fort.« Draußen brummte der Wächter irgendetwas vor sich hin. Wahrscheinlich langweilte er sich. Der Holzboden knarrte unter seinen Schritten, als er auf und ab ging, immer auf und ab vor der verschlossenen Tür.

»Weg hier!«, flüsterte Meggie. »Bring mich weg hier! Bitte!« Sie ließ den Finger die Zeilen entlangwandern, über das sandig raue Papier, während ihre Augen den Buchstaben folgten, an einen anderen, kälteren Ort, in eine andere Zeit, in ein Haus ohne verriegelte Türen und schwarz gekleidete Männer. »Kaum war die Fee hereingekommen, da ging das Fenster auf«, flüsterte Meggie. Sie konnte es knarren hören. »Die kleinen Sterne hatten es aufgepustet und Peter fiel ins Zimmer. Er hatte Tinker Bell einen Teil des Wegs getragen und seine Hände waren noch voll von Feenstaub.« Feen, dachte Meggie. Ich kann verstehen, dass Staubfinger die Feen vermisst. Aber das war jetzt ein verbotener Gedanke. Sie wollte nicht an Staubfinger denken, nur an Tinker Bell und Peter Pan und an Wendy, die in ihrem Bett lag und noch nichts ahnte von dem seltsamen Jungen, der in ihr Zimmer geflogen war, gekleidet in Laub und Spinnweben. »Tinker Bell, rief er leise, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Kinder schliefen, >Tink, wo bist du?< Sie war gerade in einem Krug und das genoss sie sehr; sie war noch nie in einem Krug gewesen.« Tinker Bell. Meggie flüsterte den Namen gleich zweimal, sie hatte es immer schon geliebt, ihn auszusprechen, mit diesem kleinen Stups der Zunge gegen die Zähne und dem weichen B, das wie ein Kuss von den Lippen rutschte. »>Los, komm her und sag mir, ob du weißt, wo sie meinen Schatten hingelegt haben. < Die lieblichsten Klänge, wie von goldenen Glöckchen, antworteten ihm. Das ist die Feensprache. Ihr gewöhnlichen Kinder könnt sie nicht hören, aber wenn ihr sie hören könntet, wüsstet ihr, dass ihr sie von früher her kennt.« Wenn ich fliegen könnte wie Tinker Bell, dachte Meggie, dann könnte ich einfach auf das Fensterbrett da klettern und davonfliegen. Ich müsste mir keine Sorgen um die Schlangen machen und ich würde Mo finden, bevor er herkommt. Er muss sich verfahren haben. Ja. Genau. Aber was, wenn ihm etwas passiert war ... Meggie schüttelte den Kopf, als könnte sie so die Gedanken vertreiben, die sich wieder hineingeschlichen hatten, »Tinker Bell sagte, dass sich Peters Schatten in der großen Kiste befände«, wisperte sie. »Sie meinte die Kommode und Peter sprang in die Schubladen und verstreute ihren Inhalt mit beiden Händen auf dem ...«

Meggie hielt inne. Da war etwas Helles im Zimmer. Sie knipste die Taschenlampe aus, doch das Licht war immer noch da ... tausendmal heller als die Nachtlichter.

»Und wenn es für eine Sekunde zur Ruhe kam«, flüsterte Meggie, »hast du gesehen: Es war eine ... « Sie sprach das Wort nicht aus. Sie folgte dem Licht nur mit den Augen, wie es hin und her schwirrte, hastig, schneller als ein Glühwürmchen und viel größer.

»Fenoglio!« Von dem Wächter vor der Tür war nichts mehr zu hören. Vielleicht war er eingeschlafen. Meggie beugte sich über die Bettkante, bis sie mit den Fingern Fenoglios Schulter erreichte. »Fenoglio, sieh doch!« Sie rüttelte ihn, bis er endlich die Augen aufschlug. Was, wenn sie aus dem Fenster flog?

Meggie ließ sich vom Bett rutschen. Sie schlug das Fenster so hastig zu, dass sie fast einen der schillernden Flügel einklemmte. Erschrocken schwirrte die Fee davon. Meggie glaubte ein zirpendes Schimpfen zu hören.

Fenoglio starrte das flirrende Ding mit schlafverquollenen Augen an. »Was ist das?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Ein mutiertes Glühwürmchen?«