»Erzähl es mir!«, wiederholte Meggie.
Fenoglio seufzte. »Oje! Den Blick kenne ich von meinen Enkeln«, sagte er. »Also gut.« Er half ihr auf ihr Bett hinauf, schob ihr Mos Pullover unter den Kopf und zog ihr die Decke bis ans Kinn. »Ich erzähle es dir so, wie es in Tintenherz steht«, sagte er leise. »Ich kenne die Zeilen fast auswendig, ich war damals sehr stolz auf sie ... « Er räusperte sich, bevor er die Worte in die Nacht flüsterte: »Doch es gab einen, den die Menschen noch mehr fürchteten als Capricorns Männer. Man nannte ihn den Schatten. Er erschien nur, wenn Capricorn ihn rief. Mal war er rot wie das Feuer, mal grau wie die Asche, die es aus allem macht, was es frisst. Wie die Flamme aus dem Holz, so züngelte er aus der Erde. Seine Finger brachten den Tod, selbst sein Atem. Vor den Füßen seines Herrn erhob er sich, lautlos und ohne Gesicht, witternd, wie ein Hund auf der Fährte, und wartete darauf, dass sein Herr auf sein Opfer wies.« Fenoglio fuhr sich über die Stirn und sah zum Fenster. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach, als müsste er sich die Worte erst wieder ins Gedächtnis rufen, aus längst vergangenen Jahren. »Man sagte«, fuhr er schließlich leise fort, »Capricorn hätte den Schatten aus der Asche seiner Opfer erschaffen lassen, von einem Kobold oder den Zwergen, die sich auf alles verstehen, was Feuer und Rauch hervorbringen können. Ganz sicher war keiner, denn es hieß, Capricorn hätte die töten lassen, die den Schatten ins Leben gerufen hatten. Nur eins wusste jeder: dass er unsterblich und unverletzlich war und ohne Mitleid, wie sein Herr.«
Fenoglio schwieg.
Und Meggie starrte mit klopfendem Herzen in die Nacht hinaus.
»Ja, Meggie«, sagte Fenoglio schließlich mit leiser Stimme. »Ich denke, du sollst ihm den Schatten herholen. Und gnade uns Gott wenn dir das gelingt. Es gibt viele Ungeheuer auf dieser Welt, die meisten davon sind menschlich, und sterblich sind sie alle. Ich möchte nicht schuld daran sein, dass künftig auch noch ein unsterbliches Monster auf diesem Planeten Angst und Schrecken verbreitet. Dein Vater hatte eine Idee, als er zu mir kam, ich habe dir schon einmal davon erzählt, vielleicht ist sie unsere einzige Chance, aber ich weiß noch nicht, ob und wie sie funktionieren wird. Ich muss nachdenken, es bleibt uns nicht viel Zeit, und du solltest jetzt schlafen. Was hast du gesagt? Übermorgen schon soll das Ganze stattfinden?«
Meggie nickte. »Sobald es dunkel wird!«, flüsterte sie.
Fenoglio fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Wegen der Frau solltest du dir keine Sorgen machen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob du es gern hörst, aber ich denke, sie kann unmöglich deine Mutter sein, sosehr du dir das vielleicht auch wünschst. Wie soll sie hergekommen sein?«
»Darius!« Meggie grub ihr Gesicht in Mos Pullover. »Der schlechte Vorleser. Capricorn hat es gesagt: Er hat sie hergeholt, und dabei hat sie ihre Stimme verloren. Sie ist zurück, ich bin ganz sicher, und Mo weiß nichts davon! Er denkt immer noch, sie steckt in dem Buch und ...«
»Nun, wenn du Recht hast, dann wünschte ich, sie steckte wirklich noch dort«, sagte Fenoglio, während er ihr mit einem Seufzer noch einmal die Decke über die Schultern zog. »Ich denke immer noch, dass du dich irrst, aber glaub, was du willst! Und jetzt schlaf.«
Doch Meggie konnte nicht schlafen. Mit dem Gesicht zur Wand lag sie da und lauschte in sich hinein. Sorge und Freude mischten sich in ihrem Herzen wie zwei Farben, die ineinander liefen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die Netze und hinter den Stricken die beiden Gesichter, Staubfingers und das andere, verschwommen wie ein altes Foto. Sosehr sie sich auch Mühe gab, es genauer zu sehen, es verschwamm immer wieder.
Draußen dämmerte schon der Morgen, als sie endlich einschlief, aber die bösesten Träume nimmt die Nacht nicht mit sich. In der grauen Zeit zwischen Nacht und Tag wachsen sie besonders schnell, und aus Sekunden spinnen sie eine Ewigkeit. Einäugige Riesen und Riesenspinnen schlichen sich in Meggies Schlaf, Höllenhunde, Kinder fressende Hexen, alle Schreckgestalten, die ihr je im Reich der Buchstaben begegnet waren. Sie krochen aus der Kiste, die Mo ihr gebaut hatte, und zwängten sich aus den Seiten ihrer Lieblingsbücher hervor. Selbst aus den Bilderbüchern, die Mo ihr geschenkt hatte, als Buchstaben für sie noch keinen Sinn ergaben, quollen die Ungeheuer. Grellbunt und zottig tanzten sie durch Meggies Traum, lächelten mit zu breiten Mündern und bleckten spitze kleine Zähne. Da war die Grinsekatze, vor der sie sich immer so gefürchtet hatte, und dort kamen die Wilden Kerle, die Mo so liebte, dass er ein Bild von ihnen in seiner Werkstatt hängen hatte. Wie groß ihre Zähne waren! Staubfinger würde zwischen ihnen verschwinden wie Knusperbrot. Aber gerade als einer von ihnen, der mit den tellergroßen Augen, die Krallen ausstreckte, kam aus dem grauen Nichts eine neue Gestalt, knisternd wie eine Flamme, aschgrau und gesichtslos, packte den Wilden Kerl und zerriss ihn in lauter papierne Fetzen.
»Meggie!«
Die Ungeheuer zerrannen, die Sonne schien Meggie ins Gesicht. Fenoglio stand neben ihrem Bett. »Du hast geträumt.«
Meggie setzte sich auf. Das Gesicht des alten Mannes sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan und dadurch noch ein paar Falten mehr bekommen. »Wo ist mein Vater, Fenoglio?«, fragte sie. »Warum kommt er denn bloß nicht?«
Farid
Denn jene Diebe pflegten auf den Landstraßen zu lauern, auf Dörfer und Städte loszujagen und die Einwohner zu plagen. Und jedesmal, wenn sie eine Karawane geplündert oder ein Dorf überfallen hatten, brachten sie ihre Beute an diesen abgelegenen versteckten Ort, der den Blicken der Menschen fern war.
Die Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern
Farid starrte Löcher in die Nacht, bis ihm die Augen schmerzten, aber Staubfinger kam nicht. Manchmal glaubte Farid, sein vernarbtes Gesicht zwischen den tief hängenden Zweigen zu sehen. Manchmal glaubte er, seine fast lautlosen Schritte auf den vertrockneten Blättern zu hören, doch er täuschte sich jedes Mal. Farid war es gewohnt, die Nacht zu belauschen. Viele, endlos viele Nächte hatte er damit verbracht und so gelernt, seinen Ohren mehr als seinen Augen zu trauen. Damals, in dem anderen Leben, als die Welt um ihn her nicht grün, sondern gelb und braun gewesen war, hatten seine Augen ihn so manches Mal im Stich gelassen, auf seine Ohren aber hatte er sich immer verlassen können.
Trotzdem, in dieser Nacht, der längsten aller Nächte, lauschte Farid vergebens. Staubfinger kam nicht zurück. Als es über den Hügeln dämmerte, ging Farid zu den beiden Gefangenen, gab ihnen Wasser, etwas von dem trockenen Brot, das noch da war, und ein paar Oliven.
»Komm schon, Farid, binde uns los!«, sagte Zauberzunge, als er ihm das Brot zwischen die Lippen schob. »Staubfinger müsste längst zurück sein, das weißt du.«
Farid schwieg. Seine Ohren liebten Zauberzunges Stimme. Sie hatte ihn herausgelockt aus dem anderen elenden Leben, aber Staubfinger liebte er mehr, er wusste selbst nicht, warum - und Staubfinger hatte gesagt, er solle die Gefangenen bewachen. Von Losbinden war keine Rede gewesen.
»Hör mal, du bist doch ein kluger Junge«, sagte die Frau. »Also benutz für einen Moment deinen Kopf, ja? Willst du hier sitzen, bis Capricorns Männer kommen und uns finden? Ein schöner Anblick werden wir sein: Ein Junge, der zwei Gefesselte bewacht, die keine Hand rühren können, um ihm zu helfen. Totlachen werden sie sich.«
Wie hieß sie noch mal? Eli-nor. Farid hatte Schwierigkeiten, sich den Namen zu merken. Er lag ihm schwer auf der Zunge wie ein Kiesel. Er klang wie der einer Zauberin aus einem fernen, fernen Land. Sie war ihm unheimlich, sie sah ihn an wie ein Mann, ohne Scheu, ohne Angst, und ihre Stimme konnte sehr laut werden, zornig wie die eines Löwen ...