»Wir müssen hinunter ins Dorf, Farid!«, sagte Zauberzunge. »Wir müssen herausfinden, was mit Staubfinger passiert ist - und wo meine Tochter steckt.«
Ach ja, das Mädchen ... das Mädchen mit den hellen Augen, kleine Stücke Himmel, heruntergefallen und eingefangen von dunklen Wimpern. Farid stocherte mit einem Stock in der Erde herum. Eine Ameise trug einen Brotkrümel an seinen Zehen vorbei, der größer war als sie selbst.
»Vielleicht versteht er uns gar nicht!«, sagte Elinor.
Farid hob den Kopf und warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Ich verstehe alles!« Vom ersten Augenblick an hatte er alles verstanden, als hätte er nie eine andere Sprache gehört. Er musste an die rote Kirche denken. Staubfinger hatte ihm erklärt, dass es eine Kirche gewesen war, Farid hatte so ein Gebäude vorher nie gesehen. Er erinnerte sich auch an den Mann mit dem Messer. In seinem alten Leben hatte es viele solcher Männer gegeben. Sie liebten ihre Messer und stellten furchtbare Dinge damit an.
»Du wirst fortgehen, wenn ich dich losbinde.« Farid sah Zauberzunge unsicher an.
»Werde ich nicht. Oder glaubst du, ich lasse meine Tochter da unten? Bei Basta und Capricorn?«
Basta und Capricorn. Ja, das waren die Namen gewesen. Der Messermann und der Mann mit den wasserblassen Augen. Ein Räuber, ein Mörder ... Farid wusste alles über ihn. Staubfinger hatte viel erzählt, wenn sie abends zusammen am Feuer saßen. Dunkle Geschichten hatten sie ausgetauscht, obwohl sie beide so große Sehnsucht hatten nach einer hellen.
Nun wurde auch diese mit jedem Tag dunkler.
»Es ist besser, ich gehe allein.« Farid bohrte den Stock so heftig in die Erde, dass er ihm in den Fingern zerbrach. »Ich hab Übung darin, mich in fremde Dörfer zu schleichen, in fremde Paläste, Häuser ... es war meine Aufgabe, früher. Du weißt schon.«
Zauberzunge nickte.
»Sie haben immer mich geschickt«, fuhr Farid fort. »Wer fürchtet schon einen mageren Jungen? Ich konnte überall herumschnüffeln, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Wann wechseln die Wachen? Was ist der beste Fluchtweg? Wo wohnt der reichste Mann im Ort? Wenn alles gut ging, gaben sie mir genug zu essen. Wenn etwas schief ging, prügelten sie mich wie einen Hund.«
»Sie?«, fragte Elinor.
»Räuber«, antwortete Farid.
Die beiden Erwachsenen schwiegen. Und Staubfinger war immer noch nicht zurück. Farid blickte zum Dorf hinüber und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer wanderten.
»Gut. Vielleicht hast du Recht«, sagte Zauberzunge. »Du gehst allein hinunter und findest heraus, was wir wissen müssen, aber vorher bindest du uns los. Nur so können wir dir helfen, wenn sie dich doch erwischen. Außerdem möchte ich hier nicht so angebunden herumsitzen, wenn die erste Schlange vorbeikriecht.«
Die Frau sah sich so erschrocken um, als hätte sie es schon zwischen den trockenen Blättern rascheln hören. Farid aber musterte nachdenklich Zauberzunges Gesicht. Er versuchte herauszufinden, ob seine Augen ihm auch trauen konnten. Seine Ohren taten es sowieso. Schließlich stand er ohne ein Wort auf, zog das Messer aus dem Gürtel, das Staubfinger ihm geschenkt hatte, und schnitt die beiden los.
»Ah, mein Gott, nie wieder lass ich mich so verschnüren!«, rief Elinor, während sie sich die Arme und Beine rieb. »Das fühlt sich alles so taub an, als hätte ich mich in eine Stoffpuppe verwandelt. Wie geht es dir, Mortimer? Fühlst du deine Füße noch?«
Farid musterte sie neugierig. »Du ... siehst nicht aus wie seine Frau. Bist du seine Mutter?«, fragte er mit einem Nicken in Zauberzunges Richtung.
Elinor bekam mehr Flecken als ein Fliegenpilz. »Himmelherrgott, nein! Wie kommst du denn auf die Idee? Sehe ich schon so alt aus?« Sie blickte an sich herunter und nickte. »Ja, wahrscheinlich. Trotzdem, ich bin nicht seine Mutter. Ich bin auch nicht Meggies Mutter, falls das deine nächste Eingebung sein sollte. Meine Kinder waren alle aus Papier und Tinte, und der da« - sie wies dorthin, wo die Dächer von Capricorns Dorf durch die Bäume schimmerten - »hat sehr viele von ihnen umbringen lassen. Das wird er bereuen, glaub mir.«
Farid sah sie zweifelnd an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Capricorn sich vor einer Frau fürchtete, schon gar nicht vor einer, die bereits außer Atem geriet, wenn sie einen Hang hinaufkletterte, und Angst vor Schlangen hatte. Nein, wenn der Mann mit den blassen Augen sich überhaupt vor etwas fürchtete, dann vor dem, den die meisten fürchten - dem Tod. Und Elinor sah nicht so aus, als verstünde sie etwas vom Töten. Auch Zauberzunge sah nicht danach aus.
»Das Mädchen ...«, fragte Farid ihn zögernd. »Wo ist ihre Mutter?«
Zauberzunge ging zu der kalten Feuerstelle und nahm sich noch ein Stück von dem Brot, das zwischen den rußgeschwärzten Steinen lag. »Sie ist schon lange fort«, sagte er. »Meggie war damals gerade drei. Was ist mit deiner?«
Farid zuckte die Achseln und blickte hinauf zum Himmel. Er war so blau, als hätte es die Nacht nie gegeben. »Ich geh jetzt besser«, sagte er, steckte das Messer wieder ein und griff nach Staubfingers Rucksack. Gwin schlief nur ein paar Schritte entfernt, zusammengerollt zwischen den Wurzeln eines Baumes. Farid hob ihn hoch und scheuchte ihn in den Rucksack. Der Marder protestierte verschlafen, doch Farid kraulte ihm den Kopf und schnallte den Rucksack zu.
»Warum nimmst du den Marder mit?«, fragte Elinor verwundert. »Schon sein Gestank kann dich verraten.«
»Er könnte nützlich sein«, antwortete Farid und schob die Spitze von Gwins buschigem Schwanz auch noch in den Sack. »Er ist klug. Klüger als ein Hund und als ein Kamel sowieso. Er versteht, was man zu ihm sagt, und vielleicht findet er Staubfinger.«
»Farid?« Zauberzunge suchte in seinen Taschen, bis er aus einer ein Stück Papier zog. »Ich weiß nicht, ob du herausfinden kannst, wo sie Meggie gefangen halten«, sagte er, während er mit einem Bleistiftstummel hastig etwas darauf kritzelte, »aber falls es möglich ist, kannst du irgendwie versuchen, dass sie diesen Zettel bekommt?«
Farid nahm das Stück Papier entgegen und betrachtete es. »Was steht darauf?«, fragte er.
Elinor zog ihm den Zettel aus den Fingern. »Zum Teufel, Mortimer, was soll denn das sein?«, fragte sie.
Zauberzunge lächelte. »Mit dieser Schrift haben Meggie und ich schon oft geheime Botschaften ausgetauscht, sie beherrscht sie noch viel besser als ich. Erkennst du sie nicht? Sie stammt aus einem Buch. Wir sind ganz in der Nähe, steht da. Mach dir keine Sorgen. Wir werden dich bald holen. Mo, Elinor und Farid. Meggie wird die Nachricht lesen können, aber niemand sonst.«
»Aha!«, murmelte Elinor, während sie Farid den Zettel zurückgab. »Na gut. Falls der Zettel in falsche Hände fällt, ist es wohl besser so, vielleicht können ein paar von diesen Brandstiftern ja doch lesen.«
Farid faltete den Zettel zusammen, bis er kaum größer als eine Münze war, und schob ihn in die Hosentasche. »Spätestens, wenn die Sonne da über dem Hügel steht, bin ich zurück«, sagte er. »Wenn nicht ...«
». komm ich dich suchen«, beendete Zauberzunge den Satz.
»Und ich natürlich auch«, fügte Elinor hinzu.
Farid hielt das für keine gute Idee, aber er sagte es nicht.
Er nahm denselben Weg, den Staubfinger genommen hatte in der letzten Nacht, in der er verschwunden war, als hätten die Geister, die in der Dunkelheit warteten, ihn gefressen.
Pelz auf dem Sims
Allein die Sprache schützt uns vor dem Schrecken der namenlosen Dinge.