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Meggie beugte sich über den Einband. »Gesammelte Märchen von Hans Christian Andersen«, las sie vor. Sie sah Darius an. »Die sind sehr schön.«

»Ja!«, hauchte er. »Traurig, aber sehr, sehr schön.« Er griff über den Tisch und schlug das Buch für Meggie auf, an einer Stelle, an der ein paar lange Grashalme zwischen den vergilbten Seiten klemmten. »Zuerst dachte ich an mein Lieblingsmärchen, das mit der Nachtigall, vielleicht kennst du es?«

Meggie nickte.

»Ja, aber der Fee, die du gestern herausgelesen hast, geht es gar nicht gut in dem Krug, in den Basta sie gesperrt hat«, fuhr Darius fort, »und deshalb dachte ich, es wäre vielleicht besser, wenn du es mit dem Zinnsoldaten versuchst.«

Der Zinnsoldat. Meggie schwieg. Der tapfere Zinnsoldat in seinem Papierschiffchen ... Sie stellte sich vor, wie er plötzlich neben dem Obstkorb stand. »Nein!«, sagte sie. »Nein. Ich hab es Capricorn schon gesagt. Ich werde ihm gar nichts herauslesen, nicht mal zur Probe. Sag ihm, ich kann es nicht mehr. Sag ihm einfach, ich habe es versucht, und es ist nichts aus dem Buch herausgekommen!«

Darius sah sie mitfühlend an. »Das würde ich gern!«, sagte er leise. »Wirklich. Aber die Elster ...« Er presste wie ertappt die Finger auf die Lippen. »Oh, Verzeihung, ich meine natürlich die Hausmeisterin, Frau Mortola - du sollst ihr vorlesen. Ich habe nur den Text ausgesucht.«

Die Elster. Meggie sah sie vor sich, mit ihren Vogelaugen. Was, wenn ich mir auf die Zunge beiße?, dachte sie. Ganz fest. Aus Versehen war ihr das schon ein paar Mal passiert, und einmal war die Zunge so angeschwollen gewesen, dass sie sich mit Mo zwei Tage lang in Zeichensprache unterhalten hatte. Hilfe suchend sah sie Fenoglio an.

»Tu es!«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Lies der Alten vor, aber mach eines zur Bedingung: dass du den Zinnsoldaten behalten darfst. Erzähl ihr irgendetwas - dass du mit ihm spielen willst, dass du dich sonst zu Tode langweilst - und dann verlangst du noch etwas: ein paar Blätter Papier und einen Stift. Sag, du willst malen. Verstanden? Wenn sie darauf eingeht, sehen wir weiter.«

Meggie verstand kein Wort, aber bevor sie fragen konnte, was Fenoglio vorhatte, ging die Tür auf und die Elster stand im Zimmer.

Der Vorleser sprang bei ihrem Anblick so hastig auf die Füße, dass er Meggies Teller vom Tisch stieß. »Oh, entschuldige, entschuldige!«, stammelte er, während er mit seinen knochigen Fingern die Scherben auflas. Bei der letzten schnitt er sich so heftig in den Daumen, dass das Blut auf die Holzdielen tropfte.

»Komm hoch, du Hohlkopf!«, fuhr Mortola ihn an. »Hast du ihr das Buch gezeigt, aus dem sie lesen soll?«

Darius nickte und betrachtete unglücklich seinen zerschnittenen Finger.

»Gut, dann verschwinde. Du kannst den Frauen in der Küche helfen. Es müssen Hühner gerupft werden.«

Darius verzog angeekelt das Gesicht, aber er verbeugte sich und verschwand auf den Flur, nicht ohne Meggie noch einen letzten mitfühlenden Blick zugeworfen zu haben.

»Gut!«, sagte die Elster und nickte ihr ungeduldig zu. »Fang an zu lesen - und gib dir Mühe.«

Meggie las den Zinnsoldaten heraus. Es war, als fiele er einfach von der Decke. »Das ging mit schrecklicher Geschwindigkeit, er streckte das Bein gerade in die Luft und blieb auf der Mütze stehen, mit dem Bajonett unten zwischen den Pflastersteinen.«

Die Elster griff nach ihm, bevor Meggie es tun konnte. Sie musterte ihn wie ein Stück bemaltes Holz, während er sie mit entsetzten Augen ansah. Dann steckte sie ihn in die Tasche ihrer grob gestrickten Wolljacke.

»Bitte! Kann ich ihn haben?«, stammelte Meggie, als die Elster schon in der Tür stand. Fenoglio stellte sich hinter sie, als wollte er ihr Rückendeckung geben, aber die Elster musterte nur Meggie mit ihrem starren Vogelblick. »Sie ... Sie können doch nichts damit anfangen«, stotterte Meggie weiter. »Ich langweil mich. Bitte.«

Die Elster sah sie mit unbewegtem Gesicht an. »Wenn Capricorn ihn gesehen hat, bekommst du ihn zurück!«, sagte sie, dann war sie verschwunden.

»Das Papier!«, rief Fenoglio. »Du hast das Papier und den Stift vergessen!«

»Tut mir Leid!«, murmelte Meggie. Sie hatte es nicht vergessen, sie hatte sich einfach nicht getraut, die Elster um noch mehr zu bitten. Das Herz klopfte ihr eh schon bis zum Hals.

»Na gut, dann muss ich es auf andere Art bekommen«, murmelte Fenoglio. »Fragt sich nur wie.«

Meggie ging zum Fenster, lehnte die Stirn gegen die Scheibe und blickte hinunter in den Garten, wo ein paar von Capricorns Mägden damit beschäftigt waren, die Tomatenstauden hochzubinden. Was Mo wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich es auch kann?, dachte sie. Wen hast du herausgelesen, Meggie? Die arme Tinker Bell und den standhaften Zinnsoldaten? »Ja«, murmelte Meggie, während sie mit dem Finger ein unsichtbares M an die Scheibe malte. Arme Fee, armer Zinnsoldat, armer Staubfinger und - wieder musste sie an die Frau denken, die Frau mit den dunklen Haaren. »Resa«, flüsterte sie. Teresa. So hatte ihre Mutter geheißen.

Sie wollte dem Fenster gerade wieder den Rücken zukehren, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie sich etwas über den Sims draußen schob ... eine pelzige kleine Schnauze. Meggie stolperte erschrocken zurück. Klettern Ratten an Hausmauern hoch? Ja, das taten sie. Aber das war keine Ratte, der Kopf war zu stumpfnasig. Schnell trat sie wieder dicht hinter die Scheibe.

Gwin.

Der Marder hockte auf dem schmalen Sims und blickte mit schläfrigen Augen zu ihr herein.

»Basta!«, murmelte Fenoglio hinter ihr. »Ja, Basta wird mir das Papier besorgen. Das ist eine Idee.«

Meggie öffnete das Fenster, ganz langsam, damit Gwin nicht erschrak und womöglich in die Tiefe stürzte. Selbst ein Marder würde sich bei dieser Höhe bestimmt alle Knochen brechen, wenn er auf dem gepflasterten Hof aufschlug. Ganz langsam streckte sie die Hand nach draußen. Ihre Finger zitterten, als sie über Gwins Rücken strich. Dann packte sie ihn, bevor er mit seinen kleinen Zähnen nach ihr schnappen konnte, und hob ihn rasch ins Zimmer. Besorgt sah sie nach unten, aber keine der Mägde hatte etwas bemerkt. Sie beugten sich alle über die Beete, die Kleider schweißnass von der heißen Sonne, die ihnen auf die Rücken brannte.

Unter Gwins Halsband steckte ein Zettel, schmutzig, hundertmal gefaltet, mit einem Stück Band festgeknotet.

»Warum machst du das Fenster auf? Die Luft draußen ist noch heißer als hier drin! Wir ...« Fenoglio brach ab und starrte entgeistert das Tier auf Meggies Arm an. Schnell legte sie warnend einen Finger an den Mund. Dann presste sie den zappelnden Gwin gegen ihre Brust und zupfte den Zettel unter seinem Halsband hervor. Der Marder keckerte drohend und schnappte noch einmal nach ihrem Finger. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn allzu lange festhielt. Selbst Staubfinger biss er, wenn er es versuchte.

»Was hast du da, eine Ratte?« Fenoglio trat näher. Meggie ließ den Marder los, und sofort sprang er zurück auf das Fensterbrett.

»Ein Marder!«, rief Fenoglio entgeistert. »Wo kommt der denn her?« Meggie sah erschrocken zur Tür, aber der Wächter hatte offenbar nichts gehört. Fenoglio presste sich die Hand auf den Mund und musterte Gwin so erstaunt, dass Meggie fast lachen musste. »Er hat Hörner! «, flüsterte er.

»Natürlich. Weil du ihn so erfunden hast!«, flüsterte sie zurück.

Gwin hockte immer noch auf dem Fensterbrett. Unbehaglich blinzelte er in die Sonne. Er mochte das Tageslicht eigentlich nicht, er verschlief den Tag. Wie kam er hierher?