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Meggie schob den Kopf aus dem Fenster, doch unten auf dem Hof waren immer noch nur die Mägde zu sehen. Hastig trat sie wieder zurück ins Zimmer und faltete den Zettel auseinander.

»Eine Nachricht?« Fenoglio beugte sich über ihre Schulter. »Kommt sie von deinem Vater?«

Meggie nickte. Sie hatte die Schrift sofort erkannt, obwohl sie nicht so gleichmäßig war wie sonst. Das Herz begann ihr in der Brust zu tanzen. Sie folgte den Buchstaben so sehnsüchtig mit den Augen, als wären sie ein Weg, an dessen Ende Mo auf sie wartete.

»Was zum Teufel steht da? Ich kann nicht ein Wort entziffern!«, raunte Fenoglio.

Meggie lächelte. »Das ist Elbenschrift!«, flüsterte sie. »Mo und ich benutzen sie als Geheimschrift, seit ich den Herrn der Ringe gelesen habe, aber er ist wohl etwas aus der Übung. Er hat ziemlich viele Fehler gemacht.«

»Gut, und was steht da?«

Meggie las es ihm vor.

»Farid, wer soll das sein?«

»Ein Junge. Mo hat ihn aus 1001 Nacht herausgelesen, aber das ist eine andere Geschichte. Du hast ihn gesehen, er war mit Staubfinger zusammen, als der vor dir weglief.« Meggie faltete den Zettel wieder zusammen und sah noch einmal aus dem Fenster. Eine der Mägde hatte sich aufgerichtet. Sie wischte sich die Erde von den Händen und blickte zu der hohen Mauer, als träumte sie davon, einfach darüber weg zu fliegen. Wer hatte Gwin hergebracht? Mo? Oder hatte der Marder ganz allein hergefunden? Das war mehr als unwahrscheinlich. Er strich bestimmt nicht am helllichten Tag herum, ohne dass jemand nachgeholfen hatte.

Meggie schob den Zettel in den Ärmel ihres Kleides. Gwin hockte immer noch auf dem Fenstersims. Schläfrig reckte er den Hals und schnupperte draußen an der Mauer. Vielleicht roch er die Tauben, die manchmal vor dem Fenster landeten. »Füttre ihn mit Brot, damit er nicht wegläuft!«, raunte Meggie Fenoglio zu, dann lief sie zum Bett und zerrte ihren Rucksack herunter. Wo war nur der Stift? Sie hatte doch einen Bleistift gehabt. Da war er. Es war kaum mehr als ein Stummel. Aber woher sollte sie Papier nehmen? Sie zog eins von Darius' Büchern unter der Matratze hervor und trennte vorsichtig das Vorsatzpapier heraus. Noch nie hatte sie so etwas getan, ein Blatt aus einem Buch gerissen, aber jetzt musste es sein.

Sie kniete sich auf den Boden und begann zu schreiben, in derselben verschlungenen Schrift, in der Mo seine Nachricht abgefasst hatte. Sie konnte die Buchstaben im Schlaf: Es geht uns gut und ich kann es auch, Mo! Ich habe Tinker Bell herausgelesen, und morgen, wenn es dunkel wird, soll ich Capricorn den Schatten aus Tintenherz herlocken, damit er Staubfinger tötet. Von Resa schrieb sie nichts. Kein Wort davon, dass sie glaubte, ihre Mutter gesehen zu haben, und dass auch sie, wenn es nach Capricorn ging, nicht einmal noch zwei Tage zu leben hatte. So eine Nachricht passte nicht auf ein Stück Papier, egal, wie groß es war.

Gwin knabberte gierig an dem Brot, das Fenoglio ihm hinhielt. Meggie faltete das Vorsatzpapier zusammen und band es ihm ans Halsband. »Pass gut auf dich auf!«, flüsterte sie Gwin zu, dann warf sie den Rest Brot hinunter auf Capricorns Hof. Der Marder huschte die Hauswand hinunter, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. Eine der Mägde schrie auf, als er ihr zwischen den Beinen durchhuschte. Sie rief den anderen Frauen etwas zu, wahrscheinlich hatte sie Angst um Capricorns Hühner, aber Gwin war schon über die Mauer verschwunden.

»Gut, sehr gut, dein Vater ist also da!«, raunte Fenoglio Meggie zu, während er neben sie an das offene Fenster trat. »Irgendwo da draußen. Sehr gut. Und du bekommst den Zinnsoldaten zurück. Alles entwickelt sich zum Besten, wer sagt es denn?« Er knetete seine Nasenspitze und blinzelte hinaus in das gleißende Sonnenlicht. »Als Nächstes«, murmelte er, »werden wir uns Bastas Aberglauben zunutze machen! Wie gut, dass ich ihn mit dieser kleinen Schwäche ausgestattet habe! Ein kluger Schachzug.«

Meggie verstand nicht, wovon er redete, aber es war ihr auch egal. Sie konnte nur eins denken: Mo ist da.

Ein dunkler Ort

»Jim, alter Junge«, sagte Lukas mit rauer Stimme, »das war eine kurze Reise. Tut mir Leid, dass du nun mein Schicksal teilen musst.«

Jim schluckte.

»Wir sind doch Freunde«, antwortete er leise und biss sich auf die Unterlippe, damit sie nicht so zittern sollte.

Michael Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Staubfinger nahm an, Capricorn würde Resa und ihn bis zur Hinrichtung in den verfluchten Netzen baumeln lassen, doch sie verbrachten nur eine einzige sehr lange Nacht darin. Am Morgen, kaum dass die Sonne helle Flecken auf die roten Kirchenwände malte, ließ Basta sie herunterholen. Für ein paar schreckliche Sekunden dachte Staubfinger, Capricorn hätte beschlossen, sie doch auf schnelle, unauffällige Weise aus dem Weg zu schaffen, und er wusste nicht, was ihm die Knie weicher machte, die Angst oder die Nacht in dem Netz, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Auf jeden Fall konnte er sich kaum auf den Beinen halten.

Die Angst nahm Basta ihm fürs Erste, auch wenn das sicherlich nicht in seiner Absicht lag. »Ich hätte dich ja zu gern noch etwas da oben baumeln lassen«, sagte er, während seine Männer Staubfinger aus dem Netz zogen. »Aber Capricorn hat aus irgendeinem Grund beschlossen, euch für den Rest eures kläglichen Lebens in die Gruft zu sperren.«

Staubfinger gab sich alle Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. Der Tod war also doch noch ein paar Schritte entfernt. »Vermutlich stört es Capricorn, ständig Zuhörer zu haben, wenn er mit euch seine schmutzigen Pläne bespricht«, sagte er. »Oder vielleicht will er auch bloß, dass wir auf eigenen Beinen zu unserer Hinrichtung gehen können.« Eine Nacht mehr in dem Netz und Staubfinger hätte nicht einmal mehr gewusst, dass er Beine hatte. Seine Knochen schmerzten schon nach der einen Nacht so sehr, dass er sich wie ein alter Mann bewegte, als Basta ihn und Resa hinunter in die Gruft brachte. Resa stolperte ein paar Mal auf der Treppe, ihr schien es noch schlechter zu gehen, aber sie gab keinen Laut von sich, und als Basta nach ihrem Arm griff, nachdem sie auf einer Stufe ausgerutscht war, machte sie sich los und warf ihm einen so eisigen Blick zu, dass er sie allein weitergehen ließ.

Die Gruft unter der Kirche war ein feuchter, kalter Ort, selbst wenn die Sonne draußen, wie an diesem Tag, die Dachziegel von den Häusern schmolz. Es roch nach Schimmel und Mäusedreck in den Eingeweiden der alten Kirche und nach Dingen, deren Namen Staubfinger gar nicht wissen wollte. Capricorn hatte die engen Kammern, in denen längst vergessene Priester in steinernen Sarkophagen schliefen, schon kurz nach seiner Ankunft in dem verlassenen Dorf mit Gittern versehen lassen. »Was ist passender, als Todgeweihte auf Särgen schlafen zu lassen?«, hatte er damals mit einem Lachen festgestellt. Sein Humor war schon immer von ganz besonderer Art gewesen.

Basta stieß sie ungeduldig die letzten Stufen hinab. Er hatte es eilig, wieder ans Tageslicht zu kommen, fort von den Toten und ihren Geistern. Seine Hand zitterte, als er seine Laterne an einen Haken hängte und das Gitter der ersten Zelle aufschloss. Hier unten gab es kein elektrisches Licht. Es gab auch keine Heizungen oder andere Errungenschaften dieser Welt, nur die stillen Sarkophage und die Mäuse, die über die zersprungenen Steinfliesen huschten.

»Na, willst du uns nicht noch etwas Gesellschaft leisten?«, fragte Staubfinger, als Basta sie in die Zelle stieß. Sie mussten die Köpfe einziehen. Man konnte kaum aufrecht stehen unter den alten Gewölben. »Wir könnten uns Geistergeschichten erzählen. Ich kenne ein paar neue.«

Basta knurrte wie ein Hund. »Für dich werden wir keinen Sarg brauchen, Dreckfinger!«, sagte er, während er das Gitter wieder zuschloss.